Es ist eine Geschichte rund um Macht, Moral und Magie: "Gyges und sein Ring", Platos Parabel vom Hirten, der dank Zauberring unsichtbar Spanner im königlichen Schlafzimmer und am Ende selbst Herrscher wird, bot Inspiration nicht nur für den "Herr der Ringe". Dramatiker Hebbel hat daraus eine Tragödie gestrickt – und indirekt zur Entstehung der "meinungen" beigetragen. Ende der 1960er-Jahre prägten die "Schweinfurter Theaterblätter" die hiesige Kulturszene mit. Im Juli 1970 wurden die Hefte zum letzten Mal gedruckt.
Claudius H. Riegler erinnert sich an die Zeit davor, als er Redakteur der Schülerzeitung am Humboldt-Gymnasium war: Mit einem Verriss über eine schwerfällige Gyges-Inszenierung in der Berufsschulaula begann die Geschichte der Theaterblätter. Germanist Winfried Hümpfer wurde auf die Schreibe des Gymnasiasten aufmerksam und gewann den Grettstädter als Mitautor. Im November 1967 erschien das erste Exemplar der "meinungen", der "ersten und einzigen unabhängigen und ideell gemachten Schweinfurter Theaterzeitschrift" (Riegler). Am Ende kam man auf 25 Ausgaben, bei einer Monatsauflage von 1000 Stück, gratis und anzeigenfinanziert.
"Wir haben versucht, was fürs Theaterpublikum zu machen", sagt der 70-Jährige zu den Kritiken. Mitredakteur Friedhelm Langer habe er später leider aus dem Auge verloren. Winfried Hümpfer begann als Autor von Programmhefttexten des Theaters, das 1966 seine Pforten geöffnet hatte ("ein enorm inspirierender Mensch"). 1970 ging er zum Theaterverlag Suhrkamp, mit Martin Walser als Chef. Später wurde Hümpfer Chefdramaturg am Theater St. Gallen. Er starb viel zu früh an einer schweren Krankheit. Riegler selbst beschäftigte sich als Akademiker mit Wirtschaftsgeschichte, "mehr so arbeitssoziologische Sachen". Für seine Dissertation forschte er in Schweden, lebte lange Zeit in Bonn und befasste sich mit humaner Gestaltung des modernen Arbeitslebens, unter anderem in Kooperation mit dem Bundesforschungsministerium.
Schon in den "meinungen" ging es um Gesellschaftspolitik, auf zunächst 16, später 44 kleinbedruckten Seiten. Bleiwüste hin oder her: Wenn man die ausgefeilten Rezensionen liest, merkt man, wie ambitioniert das Projekt war. Heutzutage würden Schüler, die für Theaterzeitungen schreiben, ihren Lehrern Tränen der Rührung in die Augen treiben. Seinerzeit galten die Oberstufler eher als Phantasten. Später wurde der Lateinlehrer dazu gebracht, eine Moliere-Rezension beizutragen. "Wir hatten aber schon gute Deutschlehrer, solche, die zu Kritik aufgefordert haben."
Es bewegte sich was im Nachkriegs-Theater mit Namen wie Handke, Weiss, Sperr, von der Grün. Vor allem von den Inseln wehte Sturmwind herüber, dank Harold Pinter, John M. Synge oder Edward Bond. Beim wilden Briten Bond wurde schon mal ein Baby im Kinderwagen gesteinigt: ein handfester Bühnen-Skandal. Auch wenn die "meinungen"-Macher Schweinfurt Provinzialismus und Phantasielosigkeit austreiben wollten, laut Schlusswort empfanden sie sein ungewöhnliches Gastspieltheater mit wechselnden Ensembles keinesfalls als vermufft, unter Leitung eines Dr. Günther Fuhrmann. Man sei schon auch "lokalpatriotisch" gewesen, sagt Riegler.
Es gab Interviews, mit Maria Schell etwa, die als "Kameliendame" das Heft aufhübschte. Auch mancher Gastbeitrag stammte aus prominenter Feder, von Peter Handke bis Vaclav Havel, damals Dramatiker und Dissident, später erster Präsident der tschechischen Republik. In Schweinfurt gab es enge Kontakte zur Theaterszene der CSSR. Als 1968 Sowjetpanzer den Prager Frühling niederwalzten, fand das mit anklagendem Titelfoto und Brechts "Lied von der Moldau" Widerhall in Ausgabe 9.
"Wir hatten auch fast mal einen Theaterskandal", erinnert sich Riegler: In Max von der Grüns Revue "Notstand" ging es um Arbeitsentfremdung in der Industrie, was in einer Arbeiterstadt wie Schweinfurt schon für "Zunder" gesorgt habe. Leserbriefe gab es nur wenige, dafür wohlwollende Erwähnungen in auswärtigen Zeitungen. Dass das "Tagblatt" keine Notiz von den Blättern nahm, schmerzte die Herausgeber schon, im Epilog. Auch in der Festschrift zum 50. Jubiläum des Theaters seien die "meinungen" nicht mehr erwähnt worden, stellt Riegler fest.
Der Pensionär geht immer noch gerne ins Theater, spielt Bratsche im Kammerorchester und blickt zufrieden zurück. Man habe was fürs Theater tun wollen, hieß es im letzten Leitartikel. Dem sei es aber gut gegangen. Die Frage hätte lauten müssen: "Wie kann man mehr für das Publikum tun?" Theater in Schweinfurt müsse beunruhigen, brauche den "Mut zur ständigen Infragestellung."