Als Joseph Hierling und Erich Schneider 2006 der Öffentlichkeit verkündeten, dass die Sammlung Expressiver Realismus des einen künftig dem neuen Haus des anderen als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt würde, da sprachen beide von einem Glücksfall, obwohl die Realisierung noch weit entfernt lag. Nun ist die Sammlung, genauer gesagt das Beste aus ihr, gehängt, und es bestätigt sich, was die beiden vorausgesagt hatten: Es ist ein Glücksfall für Schweinfurt und seine neue Kunsthalle.
Zum Einen, weil sich unter den jetzt präsentierten rund 120 Bildern ganz wunderbare finden. Zum Zweiten, weil die Museen und Galerien der Stadt, im nationalen Vergleich ja eher ein kleineres Haus, sich damit an vorderster Front beteiligen können an einer spannenden und noch längst nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung, Einordnung und Bewertung dieser Malergeneration und des Begriffs des Expressiven Realismus. Der umschrieb ursprünglich eine Zeitspanne, nämlich die zwischen den zwei Weltkriegen. Die sich nun verfestigende kunsthistorische Einordnung ist vor allem dem Marburger Kunsthistoriker Rainer Zimmermann zu verdanken, der im Katalog zur Ausstellung ein spannendes Essay darüber schreibt.
Das „best of“ der 355 Arbeiten, die in einer ersten Fuhre sozusagen nach Schweinfurt kamen (insgesamt umfasst die Sammlung 500 Werke), wird – wie berichtet – dauerhaft in dem knapp 400 Quadratmeter großen Raum unter der großen Halle gezeigt. Zur Eröffnung haben Schneider und Hierling beide Räume im Untergeschoss bespielt und zwar so, dass sie als Gesamtausstellung funktioniert, was bedeutet, dass die Dauerpräsentation nach den ersten drei Monaten neu gehängt werden muss, wenn nebenan „Fokus Franken – Triennale für zeitgenössische Kunst“ einzieht. Einmal im Jahr wird aus den Beständen im Depot eine Wechselausstellung zu einem Maler oder Thema bestückt, bei Bedarf ergänzt durch Leihgaben.
Da der Besucher das Untergeschoss über zwei Treppenräume betreten kann, braucht es zwei wirkungsvolle Entrées. Schneider und Hierling haben sich für zwei Maler entschieden, an denen sich der Expressive Realismus besonders gut nachvollziehen lässt: auf der einen Seite Walter Becker (1893–1984). Er ist noch sehr nahe dran am Expressionismus mit den archaischen blauen Akten und der Hinwendung zu Themen des Alltags, die vorher keine waren in der Kunst. Beispielhaft: „Bahnübergang Tutzing, 1960“. „Expressionismus pur“, wie es Erich Schneider formuliert, auf der anderen „Empfangswand“: Paul Kleinschmidt (1883–1949), vertreten mit Stillleben, Frauenakt und Frauenbild, drei typischen Motiven, wie sie immer wieder in diesen Räumen zu finden sind.
Den zwei großen Werkkomplexen in der Sammlung von Franz Frank (1897–1986) und Albert Schiestl–Arding (1883–1937) sind die beiden Kabinette gewidmet. Franks Leben ist beispielhaft für diese Generation der um 1900 Geborenen. Mit angegriffener Gesundheit kam er aus dem Ersten Weltkrieg, wurde nach nur wenigen Jahren des Schaffens von den Nazis als „entartet“ verfemt, musste in den Zweiten Weltkrieg, wurde schwer verwundet und musste quasi neu beginnen zu einer Zeit, als die nichtgegenständliche Kunst schon dominierte.
Blickpunkte im Raum sind vor allem zwei Gemälde: sein „Interieur mit Weintrinker“ von 1958, der sich geradezu aus dem Rahmen zu lehnen scheint und „Unterführung in Stuttgart“ von 1929. Dieses Gemälde galt lange als verschollen. Weil Frank es selbst für eine seiner wichtigsten Arbeiten hielt, wollte er unbedingt wenigsten ein Foto davon in seiner Monografie haben. Das Werk selbst tauchte nach seinem Tod 1986 auf, Hierling konnte es erwerben. Erstaunlich, wie es Frank gelungen ist, einer eher unattraktiven städtischen Szenerie so viel Spannung einzuhauchen.
Albert Schiestl-Arding ist einer von den Malern dieser Generation, denen nur ein kurzes Leben vergönnt war, mit dramatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, mit Scheidung, Verlust des Werkes durch einen Atelierbrand und völligem Zusammenbruch 1925. Vor diesem Hintergrund sein Selbstporträt mit Hut und die anderen Werke zu betrachten, eröffnet noch einmal einen neuen Zugang.
Auch die drei Skulpturen von Karl Röhrig in diesem Raum erschließen sich besser beim Blick auf die Jahreszahl. Die „Schwangere Frau“, mit dem sorgenvollen Blick, deren Mantel den Bauch nur unzureichend bedeckt, ist 1930 entstanden. Sie scheint vorauszuahnen, was die Zukunft an Schwerem bringt. Gegenüber der „Mann mit Sack“ von 1945. Er scheint schwerer zu tragen an dem hinter ihm Liegenden als an der Last in seiner Hand.
Die Blickachsen sind mit starken Gemälden betont, zum Beispiel Fritz Gartz (1883–1960). Sehr körperlich sein „Mädchen im Sessel“ von 1912 (siehe Titelbild), nicht mehr Kind, noch nicht Frau: ein beliebtes Sujet in der Kunst. Daneben ein ungewöhnlich inszeniertes Selbstporträt. Gartz hat sich an einen Tisch mit Büchern gesetzt, der nicht in einem realen, sondern eher in einem „geistigen Raum“ zu stehen scheint.
Im Raum daneben, unter dem Innenhof, seien an dieser Stelle mehrere Wände zum genauen Betrachten empfohlen: gegenüber der historischen Mauer Frauenbilder dieser Zeit. Paula Wimmers „Weiblicher Halbakt“ von 1920, noch beeinflusst vom Jugendstil, neben „Zwei Mädchen“ von Fritz Hülsmann, 1947 gemalt, aber ganz und gar zeitlos. Anton Faistauer ist seiner Kollegin Silvia Koller in den 1920er Jahren mit seinem Porträt sehr nahe gekommen. Wunderbar das Weinrot ihres Kleides, das sich in den Wangen und Lippen wiederfindet.
Eine Wand teilen sich Albert Birkle (1900–1986), der zu den bekanntesten Vertretern gehört und Robert Liebknecht (1903–1994), der Sohn von Karl Liebknecht. Birkle war ein sozialkritischer Maler, setzte sich mit Krieg und der Welt der Arbeit auseinander. Seine Menschen sind gezeichnet von Angst und Verzweiflung. Liebknecht, dessen Vater bekanntlich 1919 ermordet wurde, emigrierte 1933 nach Paris. 1940 wurde er interniert, floh später in die Schweiz und kehrte erst nach dem Krieg nach Paris zurück. Er zeigt ein unglaublich lebendiges, ungestümes Paris der 1930er Jahre. 40 Jahre später lässt er Blumen in seinem Atelier geradezu explodieren.
Eine Wand ist Landschaften verschiedener Maler gewidmet, wobei jeder mit zwei bis drei und nur im Ausnahmefall mit nur einer Arbeit vertreten ist. Gegenüber Joseph Mader (1905–1982) mit drei sehr modern anmutenden Arbeiten in Mischtechnik auf Papier: stark abstrahierte Landschaftsszenen. Von hier ergibt sich noch ein interessanter Blick auf einen nackten Mann und eine nackte Frau im Dialog: Er ist der „Stehende Mann“, eine Skulptur von Karl Röhrig von 1928. Sie „Susanne im Bade“ von Julius Hüther. Keine Schönheit ist es, die da in ihrem Garten in den Zuber steigt, von Zaungästen beäugt. Und doch hat das Bild seinen Reiz.
Es gibt, wie gesagt, viele wunderbare Gemälde in dieser Ausstellung, die es lohnen, immer wieder zu kommen, noch mehr Details, neue Bezüge zur Zeitgeschichte, Verwandtschaften oder Unterschiedlichkeiten in der Sichtweise der Maler zu entdecken. An den Bildern, die ihn nicht ansprechen, kann der Besucher ja, wie in jeder Ausstellung, vorbeigehen.
Eröffnung der Sammlung am 28. Mai.