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GEROLZHOFEN
Gerolzhöfer besiedelten weiteres Dorf
Völlig neuer Aspekt der Stadtgeschichte Umfangreiche Recherchen von Bernhard Fackelmann zur Auswanderung von 1724 bringen überraschende Fakten zutage.
Gerolzhöfer besiedelten weiteres Dorf
Von unserem Redaktionsmitglied Norbert Finster
 |  aktualisiert: 28.09.2011 15:36 Uhr

Im rumänischen Dorf Sanktmartin hat sich lange Zeit niemand dafür interessiert, wo die Ursprünge liegen. Bis Bernhard Fackelmann kam. „Wir haben gelebt wie ein Baum ohne Wurzeln. Das ist für Gerolzhöfer ganz anders. Sie wissen, dass sie Gerolzhöfer sind.“

Das sagt Bernhard Fackelmann bei einem Besuch in Gerolzhofen. Er wollte unbedingt einmal die Stadt besichtigen, von der einst ein bedeutender Teil der Wiederbesiedlung von Sanktmartin ausging. Die gut zehn Jahre langen Recherchen von Bernhard Fackelmann haben nämlich Erstaunliches ergeben: Männer und Frauen aus dem Treck von insgesamt 66 Gerolzhöfern, die sich 1724 auf den Weg nach Ungarn machten, haben nicht nur Elek, sondern auch das sieben Kilometer entfernte, heute schon im rumänischen Banat liegende Sanktmartin wiederbesiedelt. Eine absolute Neuheit für die Gerolzhöfer Stadtgeschichte!

„Das haben wir bisher weder in Gerolzhofen noch in Elek gewusst“, staunt Hannelore Hippeli, Partnerschaftsbeauftragte im Stadtrat. Durch Fackelmanns Erkenntnisse muss nun zwar die Geschichte der Gerolzhöfer Auswanderungswelle nach Ungarn nicht gänzlich neu geschrieben, aber doch wesentlich erweitert werden.

Bernhard Fackelmann hat bis 1980 selbst in Sanktmartin gelebt. „Von Elek, das ungefähr sieben Kilometer entfernt liegt, haben wir immer nur die Kirchturmspitze gesehen“, erinnert er sich. Kein Wunder, denn zwischen den sozialistischen Bruderstaaten Rumänien und Ungarn lag damals eine Grenze, die fast so stark befestigt war wie die innerdeutsche.

In den 1980ern beschleunigte sich der Exodus der deutschstämmigen Bewohner nach dem Zweiten Weltkrieg. Der rumänische Staatschef Nicolae Ceauºescu ließ sich die Ausreise nach Deutschland gut bezahlen. 1991 – im Zuge der Wende – verließen dann bis auf ein paar Alte alle deutschstämmigen Bewohner das Dorf. „Sanktmarin ist heute ein rein rumänisches Dorf“, sagt der inzwischen in München lebende Fackelmann. Es heißt jetzt Sinmartin.

Für die Banater Schwaben, die eigentlich überwiegend gar keine Schwaben sind, bedeutete die Bundesrepublik Deutschland so etwas wie das gelobte Land, erinnert sich der 61-jährige Kaufmann an die Zeit vor der Wende. Weil sie jetzt plötzlich ungehindert dorthin kommen konnten, verließen fast alle unter Aufgabe ihres gesamten Besitzes das Banat.

„In Sanktmartin stehen deshalb heute rund 40 Prozent der Häuser leer“, weiß Fackelmann. Den überstürzten Aufbruch der Deutschen bewertet er aus heutiger Sicht aber als Fehler. „Wir haben alles zurückgelassen, unsere Häuser, unsere Kleider, unsere Tracht. Daran haben wir nicht gedacht.“

Fast 300 Jahre davor bewegte sich der Strom der Deutschen in umgekehrter Richtung. Im Frühjahr 1724 erreichte die größte Siedlergruppe Gyula, Elek und eben Sanktmartin. Der Kern der Siedler stammte aus den ostfränkischen Gebieten, aus den Bezirken Würzburg, Schweinfurt, Haßfurt, Bamberg und Gerolzhofen. Sie machten sich auf nach Ungarn, weil ihnen vor allem Land, so viel sie wollten, und Befreiung von der Leibeigenschaft versprochen worden war.

Menschenleeres Land

Das verlockende Angebot hatte seinen Grund: Durch die Türkenkriege war das Land um Gyula fast menschenleer. Als die Türken besiegt abzogen, bot der Landstrich ein trostloses Bild. Das Gebiet war völlig verödet, versumpft und daher ungesund. Das Trinkwasser war eine Brutstätte für Cholera-Erreger, Flöhe und Ratten verbreiteten die Pest. Es gab weder Handel noch Gewerbe.

Vor dem Türkenkrieg existierte schon einmal ein Sanktmartin mit dem ungarischen Namen Szent Marton. 1566 muss es zusammen mit dem Fall der Festung Arad dem Erdboden gleichgemacht worden sein. Zur Zeit der Regentschaft Kaiser Karls VI. sollte das Land wiederbesiedelt werden. Karl war von 1711 bis 1740 römisch-deutscher Kaiser, Erzherzog von Österreich und Souverän der übrigen habsburgischen Erblande, als Karl III. auch König von Ungarn und Kroatien.

Im Raum Gyula/Arad war Anfang des 18. Jahrhunderts Johann Georg Harruckern (1664 bis 1742) Versorgungsoberstatthalter. Als Lohn für seine Dienste erbat er sich vom Kaiser nicht Geld, sondern Land. Das bekam er mit der Grundherrschaft von Gyula, die er um die verödete Puszta Szt. Marton, Tamasz, Elek und Pel ergänzte.

Seine Ländereien wollte Harruckern wieder besiedeln. Warum er ausgerechnet in Franken um Siedler warb, hat Bernhard Fackelmann im Laufe seiner zehnjährigen Recherchen noch nicht herausfinden können. Jedenfalls versammelten sich am 20. Mai 1724 auf dem Marktplatz von Gerolzhofen viele Menschen, darunter 66 Gerolzhöfer, zu einem gemeinsamen Abschiedsgottesdienst. Mit Pferdewagen machten sie sich auf den Weg nach Bamberg und Regensburg – wohlgemerkt gegen den Willen des Würzburger Fürstbischofs Johann Philipp Franz, der diese Menschen unbedingt im eigenen Herzogtum halten wollte.

Trotzdem ging es auf der Donau weiter flussabwärts mit primitiven Transportkähnen, den „Ulmer Schachteln“, bis ins ungarische Dunaföldvár. Auf dem Landweg bewegte sich der Treck dann nach Osten, nach Gyula, Elek und Sanktmartin (von diesem Wegverlauf gibt es verschiedene schriftliche Zeugnisse mit anderen Routen).

Viele kamen um

Das Leben der ersten Siedler war nicht leicht in dieser ungesunden und verwilderten Umgebung. Viele kamen um. Es galt auch für sie der alte Siedlersatz: „Den ersten der Tod, den zweiten die Not und erst die Enkel fanden das Brot.“

In der Tat ging es aufwärts. Ab 1750 war Sanktmartin selbstständige Pfarrei, nicht mehr Filiale von Elek. Die Auswanderer brachten es größtenteils zu Wohlstand und etablierten auch ihre Kultur. Bis in die 1980er Jahre war Deutsch noch Unterrichtssprache im Banat. Und die Schulbücher kamen aus Westdeutschland.

Von alledem ist heute nichts mehr übrig geblieben.

Das Familienbuch

Bernhard Fackelmann hat in den vergangenen zehn Jahren eine unermessliche Arbeit bei der Zusammenstellung der Familiengeschichte aller deutschstämmigen Bewohner von Sanktmartin geleistet. Sie gehen teilweise bis in die Besiedlungszeit ab 1724 zurück. Wichtigste Quellen waren für ihn dabei Kirchenbücher der römisch-katholischen Pfarrei Sanktmartin von 1750 bis 1992, das Archiv des Bischöflichen Ordinariats Temesvar und das Heimatbuch der Gemeinde Elek von Johann Stöckl und Franz Brandt.

Gerolzhofen als Urheimat von Siedlern trat bei diesen Recherchen vielfach zutage. Genannt werden in den Büchern von Elek und Gyula Familiennamen wie Eisenbeil, Geisel, Schmidt, Söllner und Zielbauer, aus Alitzheim kommt die Familie Braun dazu, aus Donnersdorf die Familie Bauer.

Bernhard Fackelmann hat ein Exemplar mit dem Titel „Familienbuch der römisch-katholischen Pfarrgemeinde Sanktmartin im Arader Komitat 1724 – 1992“ jetzt der Stadt Gerolzhofen geschenkt. Es soll künftig im Stadtarchiv allen Interessierten zugänglich sein. Das Werk mit fast 1600 (!) Seiten ist im Mai 2011 in zwei Bänden in der Schriftenreihe zur donauschwäbischen Herkunftsforschung erschienen.

Dickes Geschenk fürs Stadtarchiv: Bernhard Fackelmann (rechts) übergibt zwei Bände mit zusammen fast 1600 Seiten mit den Ergebnissen seiner Forschungen über die Gründer und späteren Bewohner von Sanktmartin. Von den Ergebnissen überrascht sind (von links) die Partnerschaftsbeauftragte Hannelore Hippeli, Siegfried Brendel, der Vorsitzende des Partnerschaftskomitees Gerolzhofen-Elek, und Bürgermeisterin Irmgard Krammer.
Foto: Finster | Dickes Geschenk fürs Stadtarchiv: Bernhard Fackelmann (rechts) übergibt zwei Bände mit zusammen fast 1600 Seiten mit den Ergebnissen seiner Forschungen über die Gründer und späteren Bewohner von Sanktmartin.
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