
"Entschuldigung", sagt Kevin Lick, aber er müsse allmählich gehen. "Morgen schreibe ich eine Matheschulaufgabe." Knapp zwei Stunden lang hat der 19-jährige Deutsch-Russe gerade bei einer SPD-Veranstaltung in Schweinfurt seine unglaubliche Geschichte erzählt. 17 lange Monate lang war der Schüler in russischen Gefängnissen und Straflagern eingesperrt.
Doch dann war Kevin Lick Ende Juli über Nacht dabei beim größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Krieges. Am Abend des 1. August empfing Bundeskanzler Olaf Scholz den 19-Jährigen - am Flughafen Köln-Bonn in der Freiheit. Seine schwarze Gefängniskluft hat Kevin Lick - stark abgemagert, aber glücklich - da noch an.

Keine drei Monate später ist er Gast des SPD-Ortsvereins Schweinfurt-Mitte, um im Gespräch mit dem Journalisten und Russland-Kenner Roland Bathon zu berichten, wie es ihm in Putins Staat ergangen ist. Wie es dazu kam, dass er als 17-Jähriger wegen Hochverrats zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Vor allem ist er hier wegen einer Botschaft: Putin sei ein rücksichtsloser, brutaler Autokrat, der keinerlei Widerspruch im Land dulde, sagt Lick: "Es ist meine Pflicht, meine Erfahrungen zu schildern."
Gerade der jungen Generation hierzulande müsse bewusst sein, dass die Demokratie, dass die Möglichkeit, auch kritische Meinungen zur herrschenden Politik zu äußern, "keine Selbstverständlichkeit ist".
Sprache seiner Kindheit: Kevin Lick muss wieder richtig Deutsch lernen
Der 19-Jährige trägt an diesem Abend Rollkragenpullover und Anzug. Der großgewachsene Teenager ist nach wie vor sehr hager, die Haare sind mittlerweile wieder gewachsen. Lick spricht leise, sehr bedacht. Auch, weil er "Deutsch jetzt erstmal wieder richtig lernen muss".
Es ist die Sprache seiner Kindheit. Kevin Lick ist in Montabaur geboren und aufgewachsen bei seiner russisch-stämmigen Mutter Viktoria im Westerwald. Er ist zwölf, als sich seine Mutter 2017 entscheidet, zurück in ihre Heimat, nach Maikop im Nordkaukasus, zu ziehen. Für den Sohn beginnt eine schwierige Zeit. Er muss von einem Tag auf den anderen Russisch lernen, in der Schule wird er regelmäßig als "Deutscher" und "Faschist" beschimpft, "sogar von Lehrern".
Doch er setzt sich durch, ist ein guter Schüler. Und einer, der selbständig denkt - und keine Angst hat. Er kritisiert unter anderem die Militarisierung der Jugend in Putins Russland - "wie in der Hitlerjugend". Eines Tages hängt der Schüler im Klassenzimmer das obligatorische Porträt von Wladimir Putin ab - und ersetzt es durch ein Bild des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny.
Lick vermutet, dass er daraufhin von der stellvertretenden Schulleiterin bei der russischen Geheimpolizei FSB denunziert wird. Zum Verhängnis indes werden dem Hobbyfotografen Bilder, die er Ende 2021 von der Wohnung aus von einem Militärgelände in der Nachbarschaft macht. Jahrelang habe sich dort nichts getan, plötzlich seien dort Fahrzeuge betankt und bewegt worden, sagt Kevin Lick. "Da habe ich mich schon gefragt: Wird es zu einem Krieg gegen die Ukraine kommen?"
Kurz vor der Rückkehr nach Deutschland gefangen genommen - und verurteilt
Als sich mit dem Überfall auf das Nachbarland die politische Situation in Russland weiter verschärft, wollen Viktoria und Kevin Lick zurück nach Deutschland. Anfang 2023 scheinen bürokratische Hemmnisse überwunden, der Flug von Sotschi in die Bundesrepublik ist gebucht. Da wird Kevin Lick am 22. Februar 2023 von mutmaßlichen FSB-Kräften vor den Augen der Mutter auf offener Straße verhaftet.
Er wird zu Putins Gefangenem. Man wirft ihm vor, er habe Fotos von geheimen Militäranlagen gemacht, um sie einem westlichen Geheimdienst zu übergeben. Der Prozess findet im Oktober 2023 unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Eine Chance auf faire Verteidigung habe nicht bestanden, sagt Lick. Eine Richterin, die möglicherweise milder geurteilt hätte, sei kurz vor dem Urteil "wegen Befangenheit" abgelöst worden. Dass er lediglich für private Zwecke fotografiert hat, glaubt ihm niemand. Am Ende lautet das Urteil: vier Jahre wegen Hochverrat.
Kevin Lick verbringt 17 Monate in verschiedenen Gefängnissen
17 Monate verbringt der Schüler in Gefängnissen. Mal in Isolationshaft, dann wieder in einer Gemeinschaftszelle, wo ihn Mitgefangene mit brennenden Zigaretten quälen, um die Namen vermeintlicher Komplizen zu erpressen, wie er erzählt. Eine Zelle habe zwar ein Fenster gehabt, "allerdings fehlte die Scheibe vor dem Gitter".
Der Teenager wird zunehmend krank - ganz abgesehen vom "psychischen Stress". Rückblickend sagt er: "Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, vier Jahre bis 2027 zu überleben."
Anfangs werden ihm Bücher und Decken, die ihm seine Mutter bringt, weggenommen, später kann er zumindest lesen oder Radio hören. Anrufe sind nicht erlaubt. Bis zum Gerichtsverfahren darf Viktoria Lick ihren Sohn zweimal im Monat für eine Stunde besuchen, nach der Verurteilung nur noch einmal im Quartal.

Im Sommer 2024 verlegen die Behörden Kevin Lick ins Arbeitslager nach Archangelsk, über 2500 Kilometer von Maikop entfernt. In einer Baracke ist der Teenager mit anderen Gefangenen inhaftiert, in einer Näherei muss er Zwangsarbeit leisten.
Die vage Hoffnung, als deutscher Staatsbürger vielleicht doch vorzeitig freizukommen, sei da längst geschwunden gewesen, berichtet der 19-Jährige in Schweinfurt. Er setzt seine Worte wohlüberlegt, immer wieder hält er inne.
Raus aus der Baracke, in die Einzelzelle - und dann Richtung Deutschland
Dann kommt der 27. Juli - "ein Samstag". Der Leiter der Haftanstalt lässt ihn in der Baracke abholen. Er habe ihn aufgefordert, ein Begnadigungsschreiben zu verfassen. Der 19-Jährige weigert sich. Er sehe sich nicht als Straftäter, habe er gesagt. Prompt landet Lick für mehrere Stunden in einer dunklen Einzelzelle. "Ich war sehr nervös, hatte keine Ahnung, was passiert, am Ende habe ich nur noch hysterisch gelacht."
Mitten in der Nacht wird er abgeholt. Dass der Gefängnisleiter immer noch vor Ort ist, wundert ihn. Etwas Hoffnung sei aufgekommen, dass die Qualen, dass der Alptraum ein Ende haben könnte. Gleichzeitig habe er einen Beamten gefragt, "ob sie mich nun zur Erschießung bringen". Die Stunden ziehen sich, schließlich wird er - streng vom FSB bewacht - in eine Haftanstalt bei Moskau geflogen.
Die Ungewissheit, was mit ihm passiert, bleibt.
Das Sandwich vom Geheimpolizisten im Flugzeug lehnt er ab
Dass er - 17 Monate nach seiner Verhaftung - aus Russland ausgeflogen werden soll, realisiert Kevin Lick erst am folgenden Donnerstag. Da werden ihm Entlassungspapiere vorgelegt, anschließend geht es zum Flugzeug Richtung Türkei. Als er am Flughafen den russischen Oppositionellen Andrej Piwowarow erkennt, sei ihm klar geworden, dass offensichtlich ein Gefangenenaustausch ansteht, berichtet Lick.
Als er von dem bewaffneten FSB-Beamten, der ihn begleitet, im Flugzeug nach Ankara ein Thunfisch-Sandwich angeboten bekommt, lehnt er ab. Der Geheimpolizist habe geantwortet: "Ich würde mir auch nicht vertrauen."
Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Via Ankara wird Kevin Lick gemeinsam mit 15 anderen politischen Gefangenen, darunter der amerikanische "Wall-Street-Journal"-Korrespondent Evan Gershkovich und Putin-Kritiker Wladimir Kara-Mursa, gegen acht russische Staatsbürger ausgetauscht, unter anderem der als Berliner "Tiergarten-Mörder" bekannt gewordene Geheimdienstler Wadim Krassikow.
In Deutschland angekommen, empfängt der Bundeskanzler die befreiten deutschen Staatsbürger. "Ich habe mich bei Olaf Scholz für seinen Einsatz für die Humanität bedankt", sagt Kevin Lick. Die größte Sehnsucht indes gilt seiner Mutter. Nach einem Gesundheitscheck im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz kann er sie wieder in die Arme schließen. Seitdem plant die Familie im Raum Würzburg, wo der Mann von Viktoria Lick herstammt, ihre Zukunft.
Bei den Vereinten Nationen, in Berlin, im Schüler-Parlament: Kevin Lick wirbt für die Demokratie
Kevin Lick will sich künftig für die politischen Gefangenen in Russland einsetzen. Mit den anderen aus Russland befreiten Regimekritikern hält der 19-Jährige Kontakt. Bei den Vereinten Nationen in Genf, beim Nemzow-Forum in Berlin sitzt er auf dem Podium: Auf der Weltbühne berichtet der Teenager von seinen Erfahrungen mit Putin-Russland.
Genauso wichtig sei es ihm aber, in seinem Umfeld, unter den jungen Menschen, aufzuklären, sagt er. Der 19-Jährige besucht mittlerweile die elfte Klasse am Würzburger Röntgen-Gymnasium. Im Schüler-Parlament hat er dort über seine Gefangenschaft in Putin-Russland berichtet - und für die Werte der Demokratie geworben.
Was er einmal werden will? Kevin Lick lächelt. "Erst einmal das Abitur schaffen." Die Mathe-Schulaufgabe morgen wartet.
gut, dass sie uns mit ihrer
pädagogischen Vergangenheit
wieder mal belehren
Von unserem „Jammertal auf hohem Wohlstandsniveau“ aus gar nicht zu beurteilen, was der junge Mann in seiner Jugendzeit erleiden musste. Leider wissen viele Menschen gar nicht mehr, wie gut es uns in unserer - manchmal schwierig zu handhabenden - Demokratie wirklich geht. Und Zeitung lesen diese Leute auch nicht. Die ewig Unzufriedenen, die heute nach einfacher „Führung“ schreien, würden sich umschauen.
Herrn Kevin Lick und seiner Familie meine Hochachtung, viel Erfolg, Glück und Frieden für die Zukunft.
Ein Russlanddeutscher ist jemand, der deutsche Vorfahren hat, die vor Generationen nach Russland ausgewandert sind, dort lange ihre deutsche Kultur und Sprache gepflegt haben - und nach Ende der Sowjetunion (bis heute) nach Deutschland kommen.
Ein Deutschrusse (wie ein Deutschameriksner, Deutschjapaner, Deutschnigerianer etc) hat in den meisten Fällen ein deutsches Elternteil und eines aus mit einer anderen Nationalität. Das ist etwas vollkommen Anderes!
Und wenn ich den Artikel richtig verstanden habe, handelt es sich um einen Deutschrussen - da die Mutter Russin ist.