Fast auf die Minute genau hundert Jahre, nachdem der Waffenstillstand unterzeichnet worden ist, am 11. November kurz nach fünf Uhr morgens, fährt der Bürgerbus über die französische Grenze. Die Waffenruhe am Ende des Ersten Weltkriegs trat um 11 Uhr vormittags in Kraft. So lange dauert es ungefähr, bis die Niederwerrner Delegation in der Partnerkommune Ifs angekommen ist. Mit dabei Bürgermeisterin Bettina Bärmann sowie Ehemann und Fahrer Peter Bärmann, Margarete und Thomas Wohlfahrt (als Vizebürgermeister und zugleich Vorsitzender des Niederwerrner Partnerschaftsvereins). Die roten Bierkästen sind schon für den normannischen Weihnachtsmarkt, den die Wohlfahrts gegen Jahresende besuchen werden. Der Weg führt über die Schlachtfelder Nordfrankreichs, an der Somme steht ein Soldatenfriedhof direkt an der Straße. Der große Blumenkranz einer Oberwerrner Gärtnerei liegt auf dem Gepäck.
Herzliche Begrüßung
„Der letzte französische Soldat ist noch kurz vor 11 Uhr gefallen“, sagt Monsieur Joel Regul, der mit Ehefrau Mireille die Gäste aus Unterfranken beherbergt. Im Fernsehen sind die Feierlichkeiten in Paris im vollen Gange. Regul ist ein Veteran der „Jumelage“, der deutsch-französischen Partnerschaft. Der Enkel eines Verdun-Verteidigers und Sohn eines Kriegsgefangenen aus Gleiwitz, der in Frankreich geblieben ist, steht für die ganze Vielschichtigkeit des Gedenkens 2018. Die Oma einer Niederwerrnerin hat sogar zufällig in der Bäckerei von Joel Reguls schlesischem Opa gearbeitet. Die Welt ist kleiner geworden, die Begrüßung weitaus herzlicher, als beim „Armistice“ von 1918. Es gibt Pineau, Kalbsragout mit Marengosoße, und mehrere Sorten Käse. Martine Kerguelen holt die Gäste persönlich ab, als Präsidentin des Partnerschaftskomitees.
„Es wird wohl die letzte große Feier dieser Art sein“, vermutet Ruheständler Regul, der schon die D-Day-Jubileen miterlebt hat. Die Einheimischen gedenken ihrer Kriegsopfer auf dem „Platz des 20. Juli“: Am Tag des Hitler-Attentats von 1944 wurde Ifs von kanadischen Truppen befreit. In der Herbstsonne geht es um den Centenaire des Grande Guerre. Möwen schaukeln wehklagend über einem Steinkreuz, die Flaggen Frankreichs, Großbritanniens, der Bundesrepublik und Europas wehen im frischen Wind.
Ehrenwache mit Sturmhauben
Die Abordnung aus Ilfracombe, der britischen Partnerkommune, haben rote „Poppies“ angesteckt, Mohnblüten aus Papier, in Erinnerung an die blutigen Felder Flanderns. Die Franzosen tragen „Bleuets“ als Abzeichen, blaue Kornblumen. Die Feuerwehr ist mit blitzblanken Helmen angetreten, die Musikkapelle und alten Kombattanten tragen mit Käppis, der Präfekt des Departements Calvados hat die Uniform angelegt. Die Ehrenwache des 13ten RDP zeigt sich diskret mit Sturmhauben: die Kameraden vom 13. Dragoner-Fallschirm-Regiment gedenken dem Hauptfeldwebel Stéphane Grenier. Der Aufklärungssoldat ist am 23. September 2017 bei einem Feuerüberfall von IS-Terroristen gefallen, im Spezialeinsatz an der syrisch-irakischen Grenze – mit 34 Jahren. Seine Eltern stammen aus Ifs, die Lebensgefährtin ist mit Töchterchen Eline da, um Blumen niederzulegen. Präsident Macron selbst soll dafür gesorgt haben, dass die Partnerin rechtlich als Ehefrau angesehen wird. Der jüngste Name auf dem Denkmal wird an diesem Tag feierlich enthüllt.
Bürgermeister Michel Patard-Legendre erinnert nach der Marseillaise an die fast zehn Millionen Toten aus 22 Ländern. An die 83 000 Toten allein aus der Normandie. Zugleich spannt er den Bogen zu heutigen Kämpfen, für den weltweiten Erhalt von Freiheit und Demokratie, gegen den überall aufkommenden Nationalismus: „Gemäß der Devise des 13ten RDP – Au-dela du Possible, Über das Mögliche hinaus – müssen wir dieses Ziel für unsere Kinder erreichen.“
Bettina Bärmann erinnert daran, dass das Kriegsende in Deutschland eine andere Bedeutung hat als in Frankreich, aufgrund der nachfolgenden Umbrüche. Die Deutsche, die nicht mehr aus der „Sicht der Verliererin“ auf die komplexe Geschichte blickt, gedenkt der Opfer. Zollt allen Menschen Respekt, Anerkennung und Ehrfurcht, die „vor hundert Jahren wie heute die Aufgabe annahmen, die ihnen das Schicksal stellte“. Es sei nicht der „Krieg zur Beendigung aller Kriege“ gewesen. In Afghanistan, Mali oder Syrien müsse nun gemeinsam die Freiheit verteidigt werden. Joel Regul übersetzt ins Französische.
„Imagine“ als Friedenshymne
Schulkinder verlesen eine lange Liste mit den Namen gefallener „Poilus“, einfachen Soldaten aus der Gemeinde. Chansonier Jean-Marc Savigny singt als Höhepunkt die Friedenshymne „Imagine“ von John Lennon. Kränze werden niedergelegt, Veteranen gewürdigt. Im Rathaus schließt sich ein Stehempfang mit Cidre und einer Ausstellung an.
Der Abend klingt mit einem feinen Fischfilet im Restaurant aus, zusammen mit den britischen Besuchern, rund um Marilyn Stobbe, von der „Twinning Association“ Ilfracombe. Der Badeort in Devonshire ist bekannt für die Skulptur „Verity“ von Damian Hirst und die Geschichte von „Alfie & The Kaiser“, die im Ersten Weltkrieg den Siegeswillen der Heimatfront beflügelt hat. Alfred Price, kräftiger Sohn des Strandwärters, lieferte sich 1878 einen Faustkampf mit einem blau- und heißblütigen Kontrahenten: dem Sommerfrischler und späteren Kaiser Wilhelm II. Problemprinz Bill soll aus Übermut die Umkleidehütten der Damen mit Steinen beworfen und sich schon damals eine blutige Nase geholt haben. 140 Jahre später gilt es als Ehrensache, Konflikte friedlich und in wechselseitiger Verständigung zu lösen: eine Aufgabe für die Jugend und die nächste Generation, die in der alljährlichen „Jumelage“ doch etwas vermisst wird.