Christliche Werte. Ein Begriff der oft fällt in der letzten Zeit. Oft nur als Schlagwort in einem politischen Zusammenhang oder als Antwort auf eine vermeintliche Bedrohung durch Zuwanderung. Aber was sind christliche Werte? Dekan Oliver Bruckmann hat sich in einem Vortrag für das Evangelische Bildungswerk damit befasst. Wir veröffentlichen daraus einen bearbeiteten Auszug.
In der westlichen, jüdisch-christlichen Tradition sind zentrale, biblisch deutlich belegbare Grundwerte: Würde, Gleichheit und Vielfalt, Freiheit und Gerechtigkeit, Liebe und Verantwortung.
Die skizzierten Grundwerte prägen unseren westlichen, europäischen Kulturkreis nachhaltig.
Eingang in Verfassungen
Sie finden, teilweise in moderne, säkulare Begriffe gefasst, Eingang in die westlichen Verfassungen, schließlich auch die Europäische, die bislang freilich noch nicht sanktioniert ist. Dort heißt es: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Dem breit gefächerten Blick auf die Vielfalt der Völker und Nationen in den Schöpfungserzählungen etwa und die Achtung vor der allgemeinen geschöpflichen Würde entspricht ein internationales und globales Denken und Handeln über die eigene Grenze hinaus in Richtung einer Völkergemeinschaft.
Die Wahrnehmung kultureller und weltanschaulicher Differenzen einerseits und ihre praktische politische Tolerierung andererseits sind ebenfalls in Juden- und Christentum angelegt.
Und wenn wir sehen, wie tief in unserer Gesellschaft neben dem Wohlstandsdenken auch das Wohlfahrtsprinzip und sozialstaatliches Handeln verankert sind und angesichts anderer Entwicklungen jedenfalls immer wieder reklamiert werden, dann muss nicht mehr eigens ausgeführt werden, dass es hier um eine moderne Übersetzung und Anwendung des Liebesgebotes geht.
Die Gründung der westlichen Weltgemeinschaft in jüdisch-christlichen Werten und Vorstellungen kann also nicht ernsthaft bestritten werden. Fraglich ist freilich, ob wir deshalb auch eine westlich-abendländische Wertegemeinschaft konstatieren können. Damit fragen wir nach dem Kontext des westlichen Abendlandes. Was sind Werte in unserer Gesellschaft eigentlich überhaupt? Wie gelten sie? Welchen Einfluss haben sie auf unser Denken und unsere Gesellschaft?
Seit der Antike kristallisieren sich Haupttugenden heraus, in der christlichen Rezeption dann auch Kardinaltugenden genannt, die das pflichtgemäße Leben und Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft bestimmen – unter anderem Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit.
Der Katholizismus des Mittelalters kennt einen Tugendkatalog, an dem der Einzelne, will er irdisch und himmlisch für gut befunden werden, sein Leben in der Gemeinschaft ausrichtet. Dieser Katalog verpflichtet zum tugendhaften Leben in Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß. Korrespondierend stehen auf der anderen Seite Todsünden gegenüber, nämlich Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.
Für die Aufklärung kann der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (18. Jhd.) stehen. Der Mensch soll sich im Denken und Handeln seiner Vernunft ohne Unterordnung unter andere, externe Autoritäten bedienen. Mit der Aufklärung ist das kritische Subjekt geboren, das sich nicht mehr an vorgegebenen Tugendkatalogen orientiert. Gut ist nicht, was eine andere Instanz als gut vorgibt. Gut ist freilich auch nicht, was menschlicher Neigung (zum Beispiel Mitleid, Freude) oder zweckmäßigem Kalkül (zum Beispiel eigener oder fremder Vorteil) entspricht. Gutes Handeln folgt aus dem, was die unabhängige und kritische Vernunft als notwendig und gut erkennt und deshalb für alle gleichermaßen als notwendig und verbindlich geltend macht.
Die Philosophie der Moderne bringt endlich den Begriff Werte ins Spiel. Die „materiale Wertethik“ geht davon aus, dass der Mensch allgemeine Werte erfahren und erfühlen kann, zum Beispiel Heiligkeit, Nächstenliebe, Tapferkeit, Gerechtigkeit. Sie sind keineswegs subjektiv zurechtgelegt, vielmehr sind sie im Laufe der Geschichte als objektiv richtig entdeckt worden, auch wenn nicht jede und jeder sein Verhalten daran ausrichtet.
Gewissen entscheidet
Im Rahmen der modernen Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie kommen schließlich das Gehirn und der Konstruktivismus in den Blick. Es gibt keine vorgegebene Wirklichkeit, also auch keine vorgegebenen objektiv gültigen Tugenden oder Werte. Die Wirklichkeit wird im Gehirn subjektiv konstruiert. Und Werte werden nicht tradiert, sondern geschaffen.
Mit der Moderne ist die Subjektivität der Wertmaßstäbe geboren. Als Entscheidungsinstanz ist das Gehirn und das Gewissen des Einzelnen ausgemacht und legitimiert, seine Verantwortung für das, was er für wertvoll erachtet und deshalb tut oder lässt. Er, der Einzelne, hat auch die Folgen seines Handelns zu bedenken und zu verantworten.
Also ist die Vielfalt und Variabilität der Werte in der Moderne schon angelegt. Und wenn es gilt, bestimmte Werte verbindlich einzuhalten, dann handelt es sich eben nicht mehr um unhinterfragte Tradition, die akzeptiert wird, oder um von außen oder oben Vorgegebenes, das wie von selbst einleuchtet.
Für eine Gesellschaft oder Gemeinschaften bedeutet das, dass sie sich über die geltenden Werte ständig neu verständigen müssen und, weitergehend noch, sich auch auf einen gewissen Pluralismus, eine Varianzbreite an Wertungen einstellen müssen.
Möglicherweise ist ja ein Wertepluralismus selbst in unserer Gesellschaft zum eigentlichen, höchsten Wert geworden? „Das muss doch jeder für sich selbst wissen“ wäre die konkrete sprachliche Anwendung dieser Einsicht.
Im Diskurs finden
Und wenn traditionelle Werte in der Bildung und Erziehung nicht mehr in Geltung bleiben, dann können wir auch auf ein Naturrecht, demgemäß zumindest elementare Grundwerte von Natur gegeben wären, nicht mehr zurückgreifen und müssen gemeinsame Wege stattdessen im Rechts- oder Wertpositivismus suchen. Werte sind nicht von Natur aus vorgegeben, sondern im Diskurs zu finden, zu vereinbaren und in anhaltenden Endlosschleifen zu überprüfen.
Die aktuellen Wertdiskurse über die Entstehung des Lebens ( Präimplantationsdiagnostik, Stammzellenforschung ) und das Beenden desselben (Sterbehilfe) zeigen, dass selbst der scheinbar unumstößliche Wert des menschlichen Lebens im Positivismus angekommen ist. Das individuelle Subjekt entscheidet.
„Wert“ ist seit der Moderne individuell-subjektiv und weitgehend unabhängig von allgemein-objektiven Vorgaben. Das bedeutet, dass der Einzelne seine Wertentscheidungen auch persönlich begründen muss. Er und sie müssen „Ich“ sagen. Was ist aus meiner Sicht wertvoll und gut? Erst dann geht es um das „Wir“ und die gesellschaftlichen Vereinbarungen.
„Wert“ kommt aus der Ökonomie
Interessanterweise löst der Wertbegriff die klassischen von Tugenden geprägten Kodizes guten Lebens während der Industrialisierung ab, als nämlich die Ökonomie wachsende Bedeutung gewinnt. Werte sind eigentlich Geld- und Kurswerte.
Es geht um den Wert der Güter, die verarbeitet, hergestellt und gehandelt werden. Von dort aus wandert der Begriff auch in die anderen Bereiche der Philosophie und Kultur ein.
Das wirtschaftlich-technische Denken und Handeln hat die Steuerfunktion für alle Bereiche des Lebens und damit der Gesellschaft übernommen. Daraus folgt, dass Werte, die in unserer Gesellschaft gelten, ihre Letztbegründung nicht mehr in einer religiösen Überzeugung oder einem philosophisch-ethisch begründeten Gut haben, etwa der allgemeinen Glückseligkeit (eudaimonia), sondern sich an technischen Entwicklungen und an wirtschaftlichen Zahlen ausrichten.
Die ökonomische Herkunft und Dominanz des Wertbegriffes führt auch in der moralischen und gesellschaftlichen Verwendung des Begriffs dazu, dass Werte nicht nur wandelbar sind, sondern auch verhandelt (!) werden müssen.
Keine vorgegebenen Güter mehr
Das ist zu berücksichtigen, wenn von Wertegemeinschaften die Rede ist. Werte sind auch dort keine ewig vorgegebenen Güter mehr, die bewahrt und von moralisch besonders qualifizierten Führungspersönlichkeiten (Könige, Priester, Richter) überwacht werden. Es gelten vielmehr die Werte, die von den jeweils gegenwärtigen Angehörigen einer Wertegemeinschaft im Diskurs hochgehandelt, in Geltung gehalten und tagesaktuell interpretiert werden.
Als Christenmenschen sind wir sicher besonders wertbewusste und allemal wertvolle Frauen und Männer. Aber wir sind nur ein Teil der Menschen, die in einer Gesellschaft zusammenleben, die insgesamt von Subjektivität, Individualität und einem damit gesellschaftlich einhergehenden Pluralismus im Bereich der Werte geprägt ist.
Ich denke, es ist in unserer Gesellschaft und auch in einer Gemeinschaft von bekennenden Christen wie im Bereich der Menschenrechte oder der Grundwerte der Europäischen Union. Werte sind, anders als strafbewährte Gesetze und Normen, Begriffe, die sich eine aus Individuen bestehende Gemeinschaft ständig neu aneignen und mit Leben füllen muss.
Wie groß diese Herausforderung tatsächlich ist, sehen wir zum Beispiel daran, wie unterschiedlich schon in der EU einzelne Mitgliedsstaaten, Parteien, Non-Government-Organizations und einzelne Menschen das Recht auf Asyl auslegen und anwenden. Oder wenn in Kirchengemeinden darüber diskutiert wird, wie die christlichen Werte konkret ins Gemeindeleben übersetzt werden sollen.
Für jüdisch-christliche Werte, die wir als Christenmenschen und als Kirche ausmachen und in Geschichte und Gesellschaft als fundamental wichtig erachten, gilt wie für alle anderen Werte auch, dass wir sie in den Diskurs einbringen, sie als plausibel erweisen und als wertvoll begründen müssen. Wir können sie, nur weil wir sie einmal als prägend erkannt haben, nicht als ein- für allemal gesetzt betrachten.
Wir bleiben unterwegs.