Die Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Wissenschaftlerinnen zur Zeit des Nationalsozialismus in Erinnerung rufen und gleichzeitig eine Brücke zur Gegenwart schlagen – das ist Dr. Anina Mischau mit ihrem beeindruckenden Vortrag „Morgen möchte ich wieder 100 herrliche Sachen ausrechnen“ in der Gerolzhöfer Erlöserkirche hervorragend gelungen. Nach einer prägnanten Einführung der wichtigsten geschichtlichen und politischen Hintergründe stellte sie die Biografien von fünf Frauen vor, denen allen zwei Dinge gemeinsam waren: ein glühender und unbändiger Forschergeist auf der einen und die Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts sowie ihrer ethnischen Herkunft auf der anderen Seite.
Dabei thematisierte die Soziologin das Schicksal von fünf Frauen, die alle in verschiedenen Wissenschaftsgebieten geforscht und ihren jeweiligen Bereich entscheidend geprägt haben. Den Beginn machte die Kernphysikerin Lise Meitner. Die erste deutsche Professorin für Physik entwickelte mit ihrem Neffen Otto Frisch die erste physikalisch-theoretische Deutung der von Otto Hahn entdeckten Kernspaltung.
Bis zu ihrer Flucht nach Schweden im Jahr 1938 hatten Meitner und Hahn erst im Chemischen Institut der Berliner Universität, später dann in der von Hahn aufgebauten radioaktiven Abteilung des neu gegründeten Instituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem gemeinsam gearbeitet und geforscht. Ohne Lise Meitner, so Mischau, wäre die Kernphysik der heutigen Zeit nicht auf diesem Stand.
Danach beleuchtete Mischau das Leben der Germanistin Agathe Lasch, die die historische Erforschung der mittelniederdeutschen Sprache begründete und die erste Professorin an der Universität Hamburg war. Die von ihr verfasste Mittelniederdeutsche Grammatik ist bis heute ein Standardwerk der Germanistik.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor sie ihren Lehrstuhl; ihre Bibliothek mit etwa 4000 Titeln wurde beschlagnahmt. 1942 wurde sie verhaftet, nach Riga deportiert und dort ermordet. Mischau bezeichnete es als perfide, dass ausgerechnet eine Forscherin der deutschen Sprache im Zuge der arischen Säuberung ihrer Arbeit und letztlich auch ihres Lebens beraubt wurde. Heute erinnern zwei Stolpersteine in Berlin und Hamburg an sie.
Mit Emmy Noether wechselte Mischau dann zur Mathematik. Noe-thers Forschungen haben vor allem die Algebra entscheidend revolutioniert. Aber auch in der theoretischen Physik legte sie wichtige Grundlagen. 1920 gründete sie in Göttingen eine mathematische Schule. Nach dem Entzug ihrer Lehrerlaubnis 1933 emigrierte sie in die USA.
Mischau gab auch Einblicke in das Leben von Margarete Berent, eine der ersten Rechtsanwältinnen Deutschlands. Ihre Dissertation über die Zugewinngemeinschaft der Ehegatten aus dem Jahr 1914 wurde 1958 eine der Grundlagen bei der Umgestaltung des ehelichen Güterrechts in der Bundesrepublik. Sie war Mitbegründerin des Deutschen Juristinnenvereins und wirkte so bei der Zulassung von Frauen zu juristischen Examina mit. Erst nach Kriegsbeginn wanderte sie über Chile in die USA aus. Dort wurden ihre Abschlüsse aber nicht anerkannt, weshalb sie abermals ein Jurastudium aufnahm.
Die letzte Wissenschaftlerin, die Mischau vorstellte, unterschied sich insofern von ihren Vorgängerinnen, als sie zur Wissenschaftlerin der zweiten Generation gehört und damit schon nach der offiziellen Zulassung von Frauen an Gymnasien und Hochschulen ihren Bildungsweg antrat. Dennoch hatte auch die Biologin Charlotte Auerbach, die vor allem auf dem Gebiet der Genetik forschte, unter dem Nazi-Regime zu leiden und emigrierte schließlich 1933 nach Edinburgh.
Laut Mischau waren die Schicksale dieser fünf Frauen keine Einzelfälle. Schätzungen zufolge seien in der Zeit des Nationalsozialismus rund ein Drittel aller in der Wissenschaft Tätigen von der „personellen Säuberung“ betroffen gewesen. Eine Tatsache, die der wissenschaftlichen Arbeit in Deutschland einen enormen Schaden zugefügt hätte. Dennoch sollen die Schicksale dieser Frauen beispielhaft dafür sein, trotz aller Widrigkeiten seinen Weg zu suchen und an seinem Traum festzuhalten.
Evamaria Bräuer hatte zu Beginn des Vortrags, der in Zusammenarbeit der VHS Gerolzhofen und der Initiative des KulturForums stattfand, eine andere Form der Gedenkveranstaltung angekündigt und damit mehr als Recht behalten. Das Publikum wurde durch den bewegenden Vortrag zur Reflexion über aktuelle Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung angeregt.
Musikalisch begleitet wurde der Abend von Elke Friedl (Querflöte) und Konrad Lutz (Klavier).