Kosovo liegt eigentlich gar nicht so weit weg von Mirjam Geißlers Zuhause. Rund 1000 Kilometer Luftlinie sind es zwischen Dingolshausen und Pristina, der Hauptstadt der kleinen Republik auf dem Balkan. Und doch – das hat die 26-Jährige rasch erfahren dürfen – fühlt sich das Leben dort ganz anders an als daheim. Da ist nicht nur die teils prekäre Armut, in der etliche der knapp zwei Millionen Kosovaren leben. Da sind auch die ethnischen Spannungen in dem Land, das nur etwa halb so groß ist wie Hessen. Besonders betroffen von der alltäglichen Diskriminierung ist die Minderheit der Sinti und Roma. Dies hat die junge Frau, die in Dingolshausen aufgewachsen ist, selbst erlebt.
Ihr erster Kontakt mit Kosovo, wo ein Teil ihres Herzens bis heute hängengeblieben ist, war zugleich ihr intensivster. Vor gut vier Jahren, während ihres Soziologie-Studiums in Marburg, hat ein Auslandssemester Mirjam Geißler nach Pristina geführt. Doch mit dem ursprünglich geplanten halben Jahr war für sie die Sache dort längst nicht beendet. Sie besuchte noch Sprachkurse, um Albanisch zu lernen. Und dann lernte sie Gaia kennen.
Spannungen machen das Land zu einem Pulverfass
Hinter dem Namen verbirgt sich einekleine Nichtregierungsorganisation. Deren Ziel ist es, in Kosovo das friedliche Zusammenleben der Menschen zu fördern. Schon aus der Ferne betrachtet ähnelt dies einer Sisyphusarbeit. Die auch lange nach dem blutigen Kosovokrieg Ende der 90er Jahre weiter schwelenden ethnischen Konflikte zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und den Minderheiten aus Serben und Sinti, Roma und Aschkali, einer muslimischen Teilgruppe der Roma, machen das Land zu einem Pulverfass. "Das ist dort ganz bewusst zu spüren", sagt Mirjam Geißler.
Sie hatte seinerzeit, nach ihrem Semester in Pristina, mehrere Monate drangehängt für Praktika bei Gaia. Die Organisation setzt sich besonders für Sinti und Roma ein, die in dem Land und in dessen Gesellschaft wörtlich an den Rand gedrängt leben. Die Angehörigen der Gruppe werden im Alltag auf vielfältige Weise diskriminiert, wie Mirjam Geißler schildert. In Gracanica, einer hauptsächlich von Serben bewohnten Exklave mit circa 2700 Einwohnern in Zentralkosovo, gehört etwa ein Fünftel der Bevölkerung der Gruppe der Roma an. Mirjam Geißler arbeitete dort beispielsweise in einem Theater-Projekt, dem Imaginatorium, mit. Die Mitwirkenden vermitteln Roma-Kindern auf spielerische Art schulische Bildung, etwa Mathe, Englisch, Lesen und Schreiben, was ihnen sonst niemand richtig beibringt.
Minderheiten leiden unter Alltagsrassismus
Die Angehörigen der Roma zählen laut Mirjam Geißler zu den Ärmsten der ohnehin größtenteils armen Menschen in dem kleinen Land. Umso wichtiger sei es, sich für diese einzusetzen – denn von offizieller, staatlicher Seite erhalten die Minderheiten kaum Unterstützung. Die Mehrheit der Bevölkerung steht den Minderheiten zudem sehr kritisch gegenüber. Es grassiere ein Alltagsrassismus. "Eigentlich bräuchte es Pädagogen vor Ort, die sich um die jungen Menschen kümmern", sagt Mirjam Geißler. Doch wo diese fehlen, gebe es wenigstens Organisationen wie Gaia, die diese Lücke zumindest im Rahmen des Möglichen schließen möchten. Auch Stiftungen oder Organisationen aus dem Ausland gäben immer wieder mal Geld für bestimmte Projekte.
Eine weitere Station, die Mirjam Geißler während ihres Praktikums bei Gaia in Kosovo absolviert hat, war in Boževce. In dem winzigen, 40 Einwohner zählende Dorf im Süd-Osten des Landes, bewirtschaftet Gaia einen Bauernhof. Dieser gehört Serben, die allerdings selbst nicht dort leben und ihr Anwesen der Organisation für deren Friedensarbeit zur Verfügung stellen. In der dort entstandenen Begegnungsstätte lernen junge Menschen eine nachhaltige Landwirtschaft kennen, die sich an den Zielen der sogenannten Permakultur orientiert. Diese möchte Landwirtschaft nahe an den natürlichen Ökosystemen betreiben. Ressourcen sollen möglichst schonend verwendet und Energie so sparsam als möglich eingesetzt werden. In die dort geleistete Umwelt- und Bildungsarbeit bindet Gaia auch Roma-Kinder ein.
Teilnehmer kommen aus mehreren Länden
Boževce ist einer der Orte in Kosovo, die Mirjam Geißler seit ihrem ersten Besuch während der Zeit nach ihrem Auslandssemester immer wieder anziehen. Zuletzt war sie im Oktober dieses Jahres dort. An den von Gaia angebotenen Kursen nehmen oft nicht nur Kosovaren teil. Die jungen Frauen und Männer kommen auch aus anderen Ländern, etwa Deutschland oder Frankreich. Die Kommunikation zwischen ihnen läuft in der Regel auf Englisch, berichtet Mirjam Geißler. Sie spricht selbst etwas Albanisch und Serbisch, die beiden Amtssprachen in Kosovo.
Während ihrer Zeit in Kosovo hat sie immer die offene Begegnung mit den vielen jungen Menschen in dem Land geschätzt. Dort lebt die durchschnittlich jüngste Bevölkerung Europas. Trotz des im Ausland verbreiteten Zerrbilds von kriminellen Banden und Familienclans, die Kosovo beherrschten, fühlte sich Mirjam Geißler in dem Land eigenen Worten nach immer sicher. Sie erklärt: Familiäre Netzwerke ersetzten in dem armen Land einen großen Teil der fehlenden staatlichen Strukturen. Auch bei Geldproblemen helfe man sich innerhalb der Familien immer aus. Dies stärke deren Verbundenheit.
Viele sind eng mit Deutschland verbunden
Fast alle kosovarischen Familien, die sie kennengelernt hat, haben Verwandte im Ausland, die Geld nach Hause, nach Kosovo schicken. Auch die Verwobenheit mit Deutschland sei gerade unter den jungen Kosovaren groß, erzählt Mirjam Geißler. Viele von diesen seien in Deutschland geboren und später nach Kosovo abgeschoben worden oder freiwillig dorthin zurückgekehrt.
Ihre Zeit in Kosovo hat bei Mirjam Geißler auch beruflich nachgewirkt. Nicht zuletzt ihre Erfahrungen auf dem alternativen Bauernhof von Gaia in Boževce hat sie sie dazu bewogen, eine Lehre zur Gärtnerin zu beginnen. Diese absolviert sie derzeit auf einem Biohof in der Nähe von Weimar. Dafür hat sie ihr in Jena begonnenes Master-Studium im Studiengang Bildung-Kultur-Anthropologie an den Nagel gehängt.
Gaia lebt von Spenden und Fördergeld
Wie es bei ihr weitergeht, wenn sie ausgelernte Gärtnerin ist, darüber ist sie sich noch nicht ganz im Klaren. Womöglich möchte sie sich dann beruflich für Gaia einsetzen. Das Geld, mit dem die Organisation ihre Projekte unterhält, stammt aus Spenden und zu einem guten Teil aus Fördermitteln, unter anderem von der Europäischen Union. Reich wird bei Gaia keiner von den nicht einmal zehn Beschäftigten, die fest für die Organisation arbeiten. Das ist Mirjam Geißler klar.
Doch die flachen Hierarchien bei Gaia, die es erlauben, dass sich jeder so einbringen kann, wie es ihm möglich ist, haben ihr ebenso gefallen, wie das Interesse der Menschen, die sich für die gemeinsamen Ziele der Organisation einsetzen. "Es war auf jeden Fall eine prägende Zeit für mich", sagt die 26-Jährige. Und wer weiß, was sich daraus noch entwickeln wird.
Spenden: Die Organisation Gaia hat ein Spendenkonto bei der Bank Pro Credit Bank Kosovo J.S.C., IBAN: XK05 1187 000 476 000 161, BIC: MBKOXKPR.