Die Erinnerungen sind in Klarsichtfolien sortiert. „Vergangen, Vergessen, Vorüber“ heißt eine davon, eine weitere „Die Gitarre und das Meer“ oder „Junge, komm bald wieder“ – nummeriert und im Liederordner abgeheftet. Ohne Noten, versteht sich. „Die können wir eh nicht lesen“, sagt Elmar Knörnschild mit einem Zwinkern im Auge. Er blättert zurück zu Nummer Drei, dem Text von „Heimatlos“. Die Ansagen kommen von Wolfgang Hauck, ein paar Stühle weiter. Er streicht mit den Fingern über die Saiten seiner Gitarre. Die erkennbare Melodie schickt reihum die Gedanken auf Reisen. Hauck war 1990 für vier Wochen in Mexiko auf Montage: „Die Kassette mit dem Mexiko-Lied hab ich bestimmt 1000-mal gespielt“, erzählt er.
16 Frauen und Männer sitzen an der langen Holztafel im Hinterzimmer des Gasthauses „Zur Rose“ in Gochsheim (Lkr. Schweinfurt), die meisten von ihnen in den 1940ern geboren. Kurz nach dem Krieg, als viele Soldaten noch in Kriegsgefangenschaft sind und andere erst kürzlich flüchten mussten. „Heimatlos sind viele auf der Welt, heimatlos und einsam wie ich ...“, so heißt es am Anfang von „Heimatlos“.
Was die Hobbysänger um diesen Tisch verbindet, sind ein Name und ein Gefühl: Freddy Quinn. Klar, sagen sie, es gab auch andere Sänger, doch die sangen „Pack die Badehose ein“ und „Sugar, Sugar Baby“ – kein Vergleich, da ist man sich einig. Quinns Texte handeln vom Weggehen, von Sehnsuchtsorten wie Mexiko, aber auch von der Sehnsucht nach Heimeligkeit im bundesdeutschen Wohnzimmer.
„Das geht ans Herz, wenn einer von Heimweh singt“, sagt Klaus Rosenberger. Um die 50 Polydor-Platten von Quinn haben er und seine Frau Rita im Keller, weggeschmissen wird keine. Stattdessen kriegen sie aus Wohnungsauflösungen Bekannter weitere. „Vielleicht kommen die Erinnerungen mehr, wenn die Schallplatte sich wellt.“ CDs kommen Rosenberger nur selten ins Haus.
Das Ehepaar trägt an diesem Freitagabend im Mai, wie immer dem letzten eines Monats, das blaue Poloshirt mit dem Aufdruck „Freundeskreis Freddy Quinn Gochsheim“. Den Freundeskreis gibt es seit 2002. Rosenberger und Knörnschild, die schon zusammen im Schulbus gesessen hatten, saßen einst auch zusammen in Knörnschilds „Rose“ und fanden, man müsse Freddy Quinns Lieder wieder singen. Nichts offizielles, kein eingetragener Verein oder Fanclub, nur ein Freundeskreis, der sich trifft, Ausflüge macht und seine Lieder anstimmt. In den 14 Jahren ist der Kreis der Freddy-Freunde mit offizieller Satzung auf über 30 angewachsen, mancher ist inzwischen schon gestorben.
2005 kam der Bayerische Rundfunk und berichtete über sie. Weil Heinz und Brunhilde Thürmer aus Ramsthal (Lkr. Bad Kissingen) die Sendung im Radio hörten, sind sie seither auch dabei. Thürmer tritt selbst in kleineren Runden mit Quinn-Liedern auf. Dass der Wahl-Hamburger Freddy Quinn heute, nach dem Tod seiner Lebensgefährtin 2008, inzwischen eine neue Partnerin hat? Dank der „Freizeit Revue“ nichts Neues für Thürmers.
Freddy Quinn, der Halbösterreicher mit dem irischen Nachnamen, ist in den Fünfziger und Sechziger Jahren der größte nachkriegsdeutsche Star. Als Quinns erster Nummer-Eins-Hit „Heimweh“ 1956 erscheint, ist Elmar Knörnschild elf Jahre alt. Seither hat er sein Leben nicht mehr ohne Freddy verbracht. Beim ersten Liebeskummer schmeißt er einen Groschen in die Musikbox – und wählt Freddy Quinn. Auch später, am Grab eines Freundes, spielen sie zum Abschied einen Quinn-Song. Zu Knörnschilds 60. Geburtstag 2005 ein Höhepunkt: Freddy Quinn singt in der ehemaligen Carl-Diem-Halle in Würzburg. Schon 2003 sahen sie ihn live, als er im Congress Centrum auftrat.
Auf dem Tisch im Vereinszimmer stehen Cognac, Pils und Rotwein. Wirtin Erika Knörnschild serviert zwischendurch eine Portion Currywurst. Jeder schmettert so laut oder leise, hoch oder tief, wie er will und kann. Es geht ums Gefühl. „Man muss hier nicht vorsingen, um aufgenommen zu werden“, sagt Manfred Roth. Als Neumitglied brachte er vor zwei Jahren eine alte Freddy-Quinn-Single mit. An die Fanwand mit der großen Steuerrad-Uhr und den vergrößerten Plattencovern hat sie es nicht geschafft. Stattdessen hängen dort zwei Autogrammkarten: „Elmar Knörnschild, mit allen guten Wünschen. Freddy Quinn“.
Persönlich getroffen hat keiner der Quinn-Fans sein Idol. Auf einen Brief im Vorfeld des Würzburger Konzerts, ob man sich dort vielleicht kurz treffen könne, reagierte er nicht. „Da kam nix“, erinnert sich Elmar Knörnschild. Immerhin kamen die zwei Autogrammkarten. „Ob er das natürlich selber war ...“, die Antwort verweht mit dem Wind.