Als im September das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brannte, richteten sich alle Augen auf das Elend dort. Und damit auch weg von einem anderen Ort, der im Grunde nur wenige hundert Kilometer von Unterfranken weg ist: die Flüchtlingslager rund um den französischen Hafenort Calais, von dem es die kürzeste Verbindung über den Ärmelkanal ins englische Dover gibt.
Großbritannien war schon vor dem Brexit und ist nach wie vor eines der wichtigsten Ziele für Flüchtlinge aus dem afrikanischen Raum. Sie haben dort entweder Verwandte oder sprechen Englisch, das in ihren von Bürgerkriegen oder Hungersnot heimgesuchten Heimatländern oft die Staatssprache ist.
Der Schweinfurter Student Frederik Feigl war im Sommer mehrere Monate in einem Flüchtlingslager in Calais gemeinsam mit seiner Freundin Mara Stöhr. Die beiden wohnen in Würzburg. Nach seiner Rückkehr berichtete der 23-Jährige, der Biochemie studiert, von seinen Erfahrungen. Die waren geprägt von berührenden Begegnungen mit Flüchtlingen, aber auch vom hautnahen Erleben kaltherziger Politik der französischen Regierung.
Zuletzt in den Nachrichten waren die Lager in Calais 2015 und 2016. Damals lebten dort fast 10 000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Im Oktober 2016 wurde dieses Lager geräumt, die Hütten und Zelte abgerissen und vernichtet. "Die meisten Menschen wurden in Bussen in temporäre Aufnahmezentren gefahren, um Asyl zu beantragen", erklärt Feigl. Als der so genannte "Dschungel" verschwunden war, verlor das Thema für die Öffentlichkeit an Bedeutung.
Nicht aber für die Bürger von Calais und nicht für die Flüchtlinge: "Es war deutlich schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte", erzählt Frederik Feigl. Die örtliche Polizei räume die neuen Camps regelmäßig, erst vor wenigen Wochen gab es wieder eine große Räumungsaktion, bei der 800 Geflüchtete in ganz Frankreich in Aufnahmezentren verteilt wurden, meist im Süden des Landes.
In Frankreich, so Feigl, können die Geflüchteten kein Asyl für Großbritannien beantragen, "sie sind gezwungen den riskanten Weg über den Ärmelkanal auf sich zu nehmen". Das passiert mit Schlauchbooten, auf Fähren oder auch auf Lastwagen versteckt, die durch den Eurotunnel nach Dover fahren. In jedem Fall lebensgefährliche Unternehmungen mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben.
In Calais arbeiten laut Feigl derzeit zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die versuchen eine grundlegende Versorgung der Menschen sicherzustellen. Dazu zählen Refugee Community Kitchen (RCK) und Calais Food Collective (CFC), die Mahlzeiten verteilen. Außerdem bietet Refugee Infobus WLAN, Lademöglichkeiten für Handys und hilft mit deren Registrierung. Im Juni 2020 kamen Feigl und Stöhr nach Calais und arbeiteten als Freiwillige für CollectiveAid.
Die Non-Profit Organisation sammelt und verteilt Kleidung, Hygieneartikel, Zelte, Decken und Schlafsäcke in Calais und Dünkirchen. "CollectiveAid versorgt größtenteils Männer, die die Mehrheit der geflüchteten Menschen in Calais bilden", so Feigl. Nicht selten traf man auch Familien mit kleinen Kindern, Frauen und Minderjährige, denen man durch die enge Zusammenarbeit mit anderen Organisationen Orientierungshilfe gab.
Feigl erzählt: "Jedes Mal, wenn wir zu den Camps fuhren, um Bestellungen der Menschen vor Ort aufzunehmen und anschließend die Artikel zu verteilen, führten wir Gespräche, die uns oft unglaublich traurig und wütend machten." Immer wieder sprachen Flüchtlinge gut Deutsch, da sie mehrere Jahre in Deutschland verbracht hatten. Sie seien integriert gewesen, hatten eine Ausbildung angefangen, bevor sie abgeschoben worden seien. "In solchen Momenten", so Feigl, "empfanden wir oft Scham und Wut, dass diese Menschen nun unter unmenschlichen Bedingungen in Calais ausharren müssen." Sprachlos habe ihn zurückgelassen, als eine Frau mit Kind ihn fragte, ob sie auch Schwimmwesten hätten. "Es ist nahezu unvorstellbar, was diese Menschen außerhalb unseres Blickfeldes alles Unerträgliches erfahren."
Erschwert wird die Arbeit von CollectiveAid durch die Corona-Pandemie. In der Lagerhalle gibt es ein strenges Hygienekonzept und Maskenpflicht, außerdem brach das Spendenaufkommen ein. Die ausgefallene Musik-Festival-Saison brachte weniger gespendete Zelte, die man aber dringend gebraucht hätte.
Noch schwieriger machen die Räumungen der Polizei die Arbeit. Alle zwei Tage müssen die Geflüchteten ihre Zelte woanders aufschlagen, um größere Camps zu verhindern. Immer wieder passiert es, dass Zelte und ihr Besitz beschlagnahmt und später entsorgt werden. "Das ist ein großer Stressfaktor für die geflüchteten Menschen und lässt keinerlei Sicherheit und Normalität unter den bestehenden Bedingungen zu", so Feigl.
Mitte Juli wurden 500 Personen von der Polizei in Aufnahmezentren im Süden Frankreichs transportiert und das temporäre Zuhause von rund 1000 Menschen zerstört und eingezäunt. Dennoch stieg die Zahl der geflüchteten Menschen weiter an, sie versuchen umso mehr auf gefährlichen Wegen nach England zu gelangen. CollectivAid ist auf Spenden angewiesen, beispielsweise acht Euro für einen Schlafsack oder 14 für ein Zelt, um die Arbeit fortsetzen zu können. Informationen gibt es unter www.collectiveaidngo.org
Seine Erfahrungen, wenn sie auch immer wieder bedrückend waren, möchte Feigl nicht missen und könnte sich vorstellen, wieder in einem Flüchtlingscamp zu helfen. Seine Freundin arbeitet mittlerweile in Würzburg beim Hermine e.V., der Geld- und Sachspenden für CollectiveAid stellvertretend entgegen nimmt und weiterleitet.