
Kein Wunder, dass Johann Strauss' „Die Fledermaus“ die Lieblingsoperette meiner Großmutter war. Wie einfach konnte sie sich wegträumen, wegsingen und wegtanzen, wenn sie auf der Flucht vor dem Alltag immer wieder in einer Vorstellung der Staatsoperette Dresden-Leuben strandete. „Glücklich ist, wer vergisst ...“.
Ein bisschen was von dieser Liebe zur Operette hat auch ihr Enkel geerbt. Der sitzt nun im Theater und lässt sich die vierte Fledermausgeschichte seines Lebens erzählen, inszeniert von dem in Coburg aufgewachsenen und in New York lebenden Regisseur Joachim Schamberger. Natürlich rumoren in den meisten Zuschauern Fantasiebilder der Operettenwelt, die sich eher in prächtigen Wiener oder Pariser Salons verorten lassen als in einer Gegend vor/hinter den Sieben Bergen. Und natürlich summen die Fledermausliebhaber das Melodienpotpourri der Ouvertüre schon mit, bevor sich der Vorhang überhaupt öffnet.
Zuerst mag das Publikum das Bild des Meininger Bahnhofs aus der Zeit des Fin de Siecle verwirren, das auf eine Gazéleinwand projiziert wird. Als sich jedoch der Vorhang hebt und die Zuschauer Voyeure einer urkomischen morgendlichen Meininger Bahnsteigszene werden, ahnt man langsam, wohin dieser Operettenzug fährt. Auf einer Bank sitzt, nahezu nackt und mit umgeschnallten schwarzen Fledermausflügeln, Notar Dr. Falke (Stan Meus, alternierend mit Marián Krejèík), desorientiert von den Ausschweifungen der vergangenen Nacht. Sein Freund von Eisenstein (Rodrigo Porras Garulo, alternierend mit Michael Heim) hat ihn in diese peinliche Lage gebracht und das erfordert nun die Rache der Fledermaus – auf Meininger Art.
Im Zeitalter zunehmender Wertschätzung heimatverbundener Gefühle im Schatten allseitiger Globalisierung ist das eine gewitzte Idee des Regisseurs und seines Teams mit dem musikalischen Leiter Arturo Alvarado, Bühnenbildner Helge Ullmann, Kostümbildnerin Kerstin Jacobssen und Chorleiter Sierd Quarré: Sie setzen die große Welt der Operette in das überschaubare Universum, das unsereins zu kennen glaubt, machen aus den Prunkgemächern der Belle Époque den nicht ganz so glanzvollen Salonwagen des schwer depressiven aber umso herrischeren russischen Prinzen Orlofsky (Carolina Krogius), der zufällig in der thüringischen Provinz gelandet ist.
Lasst also den Salonwagen mit erlesenen Mitgliedern der Meininger Haute-Volée, samt Dienstpersonal, in einer klaren Sternennacht von Meiningen nach Eisenach und zurückfahren. Lasst den leicht irritierten Theaterherzog kurz mal über den Bahnsteig schreiten. Lasst die Silhouette der Wartburg am Horizont des Nachthimmels erscheinen – und schon haben wir eine Fledermaus aus Thüringer Landen frisch aufs Parkett. Die Liebe des Publikums ist ihr gewiss (was auch der Jubel nach der Vorstellung bestätigt).
Schambergers Konzept geht auf. Selbst das projizierte Grau historischer Stadtszenen passt sich der morgendlichen Katerstimmung des Gefängnisdirektors Frank (Stephanos Tsirakoglou, alternierend mit Ernst Garstenauer) nach der nächtlichen Ausschweifung im Salonwagen an. Und da, wo die Bilder allzu heimatnah werden, wo Orlofskys Zug durch die vorüberziehenden Schattenwälder tuckelt und die ersten verliebten Pärchen aufs Dach steigen, um sich - sehr brav! – zu liebkosen, wo also die Ereignisse in provinzielle Enge zu geraten drohen, da bringen die Meininger Hofkapelle, die Sangeskünstler und Choristen wieder ordentlich global-feudalen Schwung in die Chose.
Leider dürfen die Sangesheldinnen und -helden der Nacht – wie Sonja Freitag als Rosalinde, Rodrigo Porras Garulo als ihr schwerenötiger Gatte oder Daniel Szeili als ihr Liebhaber Alfred – das ungeheuer Frivole, das in dem Stoff steckt, nur schaumgebremst ausleben. Das Höchste ist das bisschen Bein, das Sopranistin Monika Reinhard als pfiffige Kammerzofe Adele leider nur zentimeterweise zeigt. Das erotische Potenzial der Operette kommt entschieden zu kurz – aber so ist das vielleicht in einer gschamigen Gesellschaft, wo jeder jeden kennt. Dafür sind Witz und Ironie umso stärker vertreten, beim ewig trällernden, liebesglütigen Tenor Alfred etwa oder natürlich Gefängnisdiener Frosch, der in Peter Bernhardt seinen Meister gefunden hat. Wegträumen und wegsingen, wie einst die Großmutter in der Dresdner Staatsoperette, mag sich der Enkel nach der Vorstellung allerdings nicht. Wegtanzen schon. Für einen exzessiven Wiener Walzer ist Orlofskys Salonwagen zu eng. Aber wo hüftschwingt man in der Meininger Nacht, wenn selbst im Volkshaus nur noch die Mäuse tanzen?
Nächste Vorstellungen: 15. März, 6. April, jeweils 15 Uhr, 9. und 18. April, jeweils 19.30 Uhr. Ab 21. März auch in Eisenach. Kartentelefon: Tel. (03693) 451 222. Infos: www.das-meininger-theater.de Siggi Seuß