Wer kennt nicht das Märchen vom Rumpelstilzchen, das der Müllerstochter half, Stroh zu Gold zu spinnen. Stroh zu Gold machen, das geht nur im Märchen. Doch Stroh in eine metallisch glänzende Kostbarkeit verwandeln, das geht tatsächlich. Mit der Strohmarketerie, der kleinen Schwester der Intarsienkunst.
Mélanie Richet widmet sich diesem fast vergessenen Kunsthandwerk. Die 45-jährige Französin hat in Schweinfurt eine Werkstatt eröffnet, in der sie Strohmarketerie fertigt und verkauft – Schmuck, Objekte, Wanddekoration und Kleinmöbel mit ausgefallenen Oberflächenmustern aus Roggen-Stroh, in unterschiedlichen Farben, die schimmern, leuchten, flimmern. Was für ein faszinierendes Licht- und Farbenspiel. Auf den ersten Blick sehen die Oberflächen wie Holzeinlegearbeiten aus. Doch: "Es ist nur Stroh." Genau das liebt Mélanie Richet an diesem Kunsthandwerk: "Es ist ein so einfaches Material, aber was man daraus machen kann, das ist außergewöhnlich." Es ist denn auch nicht der Wert des Materials, das in dem Kunstwerk steckt, sondern die diffizile Handarbeit. Je nach Art und Größe dauert es Stunden bis Tage, bis ein Objekt gefertigt ist.
Die Strohmarketerie erfordert keine Maschinen, sondern nur Geschick, Genauigkeit und Geduld. Mit dem Fingernagel wird der Strohhalm aufgebrochen und dann mit einem Schaber geglättet. Drei- bis viermal. "Dazu braucht man Kraft", sagt Mélanie Richet. Und wenn man es nicht vernünftig macht, "ist das Ergebnis nicht schön". Das Stroh kauft sie bei einem Getreidebauern im Burgund, der noch eine ganz alte Sorte anbaut. Hier wachsen die Halme bis zu einer Höhe von 2,50 Metern. Sie werden grün geerntet, auf dem Feld getrocknet, in Stücke geschnitten und eingefärbt.
Vier große schwarze Boxen mit Strohbündeln in allen erdenklichen Farben stehen in der Werkstatt. Bei manchen Objekten arbeitet Mélanie Richet nur Ton in Ton oder gar mit nur einer Farbe. Je nach Verlegetechnik erzeugen die changierenden Halme einen schimmernden, metallischen Glanz. Die Kunsthandwerkerin liebt aber auch kräftige, grelle Farben, wie ihre knallbunten Schmuckanhänger und Ohrringe zeigen.
Anders als bei klassischen Holz-Intarsien werden bei der Strohmarketerie die Motive nicht in die Oberfläche eingesetzt, sondern darauf fixiert. Das ist eine wahnsinnig aufwendige Arbeit. Mélanie Richet streicht zuerst mit dem Pinsel den Holzheim auf die Trägerplatte, auf der sie zuvor das Motiv aufgezeichnet hat. Dann wird Halm an Halm eng aneinander geklebt. Mit dem Skalpell schneidet sie überstehende Halme ab. Und mit dem Schwamm wischt Richet zuletzt die Leimreste weg. Die Außenseite des Strohs ist mit natürlichen Mineralien beschichtet, die für den Glanz sorgen und das Wasser abperlen lassen. Deshalb lässt sich der Leim hier gut abwischen, während er auf der porösen Unterseite absolut sicher klebt. Kein Halm verrutscht mehr.
"Dazu brauche ich absolute Ruhe", sagt Mélanie Richet. Denn die Halme müssen exakt aneinander stoßen. Rand an Rand. Nichts darf überlappen. "Es muss hundertprozentig sein." Wenn man am Ende über das fertige Stück streicht, darf man keine Unebenheit spüren. Ihre ersten Versuche mit der Strohmarketerie vor sechs Jahren waren so "lala", meint die Kunsthandwerkerin schmunzelnd. Das Stroh hatte sie damals im Bastelgeschäft gekauft, nachdem sie im Internet zufällig die Strohmarketerie entdeckt hatte. "Ich habe schon immer gerne mit den Händen gearbeitet", erklärt Mélanie Richet ihr Interesse für dieses Kunsthandwerk. Schade findet sie, dass in Deutschland der Begriff so negativ besetzt sei. "Hier gilt ein Kunsthandwerker als schlechter Künstler, in Frankreich ist ein Kunsthandwerker ein Künstler mit ästhetischer Seite."
Der Weg bis zur Eröffnung ihrer kleinen Werkstatt in der Neuen Gasse 34 war mühsam. "Ich habe jeden Tag geübt", doch die Ergebnisse stellten Mélanie Richet nicht zufrieden. Deshalb ließ sie sich in Frankreich bei Lison de Caunes in der Kunst der Strohmarketerie richtig ausbilden. Nur wenige Menschen beherrschen heute noch dieses alte Handwerk. Die Pariser Künstlerin gilt weltweit als anerkannte Expertin für "Marqueterie de Paille", so der französische Name für Strohmarketerie. Sie fertigt Maßarbeiten für zeitgenössische französische Designer und gestaltet Objekte für große Luxushäuser oder wohlhabende Privatkunden. "Man braucht zwei bis drei Jahre, bis man die Technik richtig beherrscht."
Mélanie Richet besucht noch heute regelmäßig die Kurse in Paris, um sich weiterzubilden. Mit der ausgefallenen Technik fertigt Mélanie Richet edle Unikate, die gleichermaßen faszinieren und etwas repräsentieren, was immer seltener zu finden ist: "Die Liebe zum Detail." Und außerdem macht es die kreative Französin stolz, "dass ich dazu beitragen kann, ein Jahrhunderte altes Handwerk am Leben zu halten".