Die Stimmung ist gelöst, fast ausgelassen. Die kleine Gesellschaft – sieben Frauen und ein Mann – nimmt das „Atelier unter den Arkaden“ der Kunsthalle in Besitz. Papier, Pinsel, Paletten werden herbeigeholt, jeder sucht sich seinen Platz an einem der mit Packpapier bezogenen Biertische. Während die einen sich noch in Kunstdrucke vertiefen, die sie vielleicht als Vorlage verwenden könnten, haben andere schon losgelegt und mit Kreide oder Aquarellfarben erste Formen und Flächen aufs Papier geworfen: Der Workshop „Kraftquelle – Malen“ ist in vollem Gange.
Alle Teilnehmer sind an Krebs erkrankt. Sie haben Chemotherapien oder Operationen hinter sich. Vor allem aber müssen sie damit fertigwerden, dass viele Gewissheiten ihres bisherigen Lebens in Frage gestellt sind.
„Die Krankheit ist hier nicht unbedingt das Thema“, sagt Doris Göb von der psychosozialen Krebsberatungsstelle der Bayerischen Krebsgesellschaft am Leopoldina-Krankenhaus, die den Workshop in Zusammenarbeit mit dem Museumsservice MuSe anbietet. Der Rotary Club Peterstirn fördert das Projekt, die Teilnehmer zahlen lediglich fünf Euro für das Material. „Es geht darum, etwas Neues zu erfahren, aus der Isolation zu kommen und das Gedankenkarussell anzuhalten, in das viele Patienten sehr leicht geraten.“
Einmal im Monat, jeden zweiten Mittwoch, kommt die Gruppe seit September 2008 zusammen. Es sind nicht immer dieselben Teilnehmer, manche müssen aussetzen, wenn Chemo oder OP anstehen. „Wir haben auch schon Frauen verloren“, sagt Barbara Kimmel, die von Anfang an dabei ist. „Da war das erste Treffen danach dann natürlich nicht so fröhlich.“
„Ich kann nicht malen“ – so reagieren die meisten Klienten der Krebsberatung, wenn ihnen Doris Göb vom Workshop erzählt. Auch Barbara Kimmel. Doch dann hat sie sich überzeugen lassen, und jetzt sitzt sie vor einer Landschaft in hellen, warmen Farben und arbeitet hochkonzentriert an einem neuen Baum für ein kleines Wäldchen.
„Versuchen Sie, noch einen weiteren Braunton für den Stamm zu verwenden“, rät Frauke Fülling, Leiterin des Workshops. „Baumstämme sind nie aus nur einem Braun.“ Barbara Kimmel zögert: „Trau' ich mich?“ Sie hat den Pinsel schon in die Farbe getunkt, aber man weiß nie, wie die Farbe dann auf dem Papier aussieht. Es kostet nicht nur Überwindung, den ersten Strich zu tun, es kostet auch Überwindung, in ein Bild einzugreifen, das bereits Form angenommen hat. Und wann lässt man ein Bild am besten in Ruhe, wann ist es fertig? Fragen, denen sich jeder Künstler stellen muss.
Frauke Fülling geht herum, gibt Tipps, kommentiert, lobt, schlägt vor – hier geht es nicht um große Kunst, wohl aber um Auseinandersetzung. Die Kunsttherapeutin nimmt diese Auseinandersetzung ernst und hilft den Teilnehmern, sich ihren Zielen anzunähern. Barbara Kimmel zum Beispiel fasziniert auf den Bildern der Meister der Eindruck von Tiefe. Den wollte sie auch erreichen und hat deshalb eine Diagonale durch ihre Landschaft gelegt. „Sie hat sofort gemerkt, wie das funktioniert“, lobt Frauke Fülling.
„Der Erfolg ist das wichtigste für die Teilnehmer“, sagt die Fachakademie-Dozentin im Ruhestand, „der bildnerische Prozess, das Erlebnis, die weiße Fläche mit leuchtenden Farben zu beleben. Die Teilnehmer gehen dann mit anderen Augen durch die Welt.“ Farbe ist Leben. Frauke Fülling glaubt an ihre Heilkraft. Und an die der Musik von Mozart: In der Ecke steht ein CD-Player und spielt eine Sinfonie.
Während eine Teilnehmerin sich herman de vries' Arbeit „Chaos“ zum Vorbild genommen hat, die derzeit oben in der Kunsthalle zu sehen ist, und das Blatt mit einem wilden Kreide-Gewirr überzieht, lässt eine andere steile, kantige Formen emporwachsen, die an einen Berg vor bewegtem Himmel denken lassen. Hermann Krauss, einziger Mann in der Gruppe, hat sich still daran gemacht, eine Vorlage mit neun farbigen Rechtecken umzusetzen. Eine Tüftelei, die akkuraten Pinselstrich und genaue Farbgestaltung erfordert. „Zu Hause verdummt man“, sagt er. Und mit Leuten, die mitten im Berufsleben stehen, gibt es kaum gemeinsame Gesprächsthemen. Wie gesagt, der Krebs ist hier nicht unbedingt das Thema. „Aber wenn einer die Krankheit erwähnt, dann wissen die anderen hier jedenfalls, wovon er spricht“, sagt Barbara Kimmel.
Sie hat sich inzwischen getraut und der Rinde ihres Baums einen weiteren Braunton verpasst. Das Bild hatte sie schon in der Sitzung vor vier Wochen angefangen. Der neue Baum gefällt Frauke Fülling am besten. Sie findet ihn am natürlichsten. „Ich habe mich ja auch vier Wochen weiterentwickelt“, sagt Barbara Kimmel und meint es nur zum Teil als Scherz. Es geht hier nicht um Ablenkung oder Beschäftigung. Die Kursteilnehmer arbeiten nicht nur an ihren Ängsten, sondern an sich selbst. Die Diagnose Krebs hat ihr Leben grundlegend verändert. Aber es ist eben noch da, dieses Leben, und man kann es gestalten. Man kann es genießen, wachsen, neue Erfahrungen machen. Das Malen, das spürt man während der ganzen drei Stunden, die hier im Atelier gearbeitet wird, spielt dabei eine zentrale Rolle.
Zum Schluss werden alle Bilder aufgehängt, die Gruppe setzt sich zur Abschlussbesprechung zusammen. Die Teilnehmer erklären ihre Bilder, begutachten die Ergebnisse der anderen. Es ist eine kleine, höchst unterschiedliche Galerie entstanden. Die Farben sind fast immer leuchtend, mal wärmer, mal kühler, die Formen mal wohlgeordnet, mal schroff, mal wild. „Ja, das ist mein Chaos“, sagt die Frau, die sich die Arbeit von herman de vries vorgenommen hatte, zufrieden.
Kontakt: Psychosoziale Krebsberatungsstelle der Bayerischen Krebsgesellschaft am Leopoldina-Krankenhaus, Doris Göb. Tel. (0 97 21) 720 22 90, E-Mail: krebsberatung@leopoldina.de