Welche Sehnsucht und Hoffnung die evangelischen Christen der Kirchengemeinde Gerolzhofen mit dem Beginn des Baus der Erlöserkirche verbanden, lässt sich rückblickend kaum erahnen. Nach jahrzehntelangem Ringen um ein eigenes Gotteshaus erfüllte sich vor 100 Jahren, am 6. August 1922, mit der Grundsteinlegung ein lange Zeit gehegter Wunsch. Mit der in rund einem Jahr fertiggestellten Kirche an der heutigen Kreuzung der Nördlichen Allee zur Dreimühlenstraße erhielt der evangelisch-lutherische Glauben in der Stadt wörtlich ein festes Dach über dem Kopf und einen neuen Mittelpunkt.
Die Zeiten und Umstände, in denen mit dem Kirchenbau begonnen wurde, waren alles andere als sicher und komfortabel. Aus heutiger Sicher mag man fast feststellen: Es sprach damals eigentlich vieles dagegen, das Wagnis einzugehen, eine eigene Kirche zu bauen. Knapp vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befand sich die noch junge Weimarer Republik politisch und wirtschaftlich in einem heillosen Durcheinander. Die Zukunft für die Menschen im Land gestalteten sich alles andere als rosig. Die Alltagssorgen waren riesig. Dennoch – oder gerade deshalb – kam es zum Bau der Erlöserkirche.
Das Land befand sich in einer schwierigen Lage
Ein eindrucksvolles Zeitzeugnis dieser Stimmungslage stellt hier die Urkunde dar, die während der feierlichen Grundsteinlegung für die Erlöserkirche vor 100 Jahren ins Fundament der Kirche eingelassen wurde. Der Text der Urkunde ist im Archiv der evangelischen Kirchengemeinde überliefert. Darin ist – im Duktus der damaligen Zeit gehalten – die Rede von "schwerster Not und tiefster Schmach unseres deutschen Vaterlandes". Weite Kreise seien "von Gott abgefallen und den Dingen dieser Welt ergeben". Deshalb richteten die gläubigen evangelischen Christen in Gerolzhofen ihre Augen "mehr als je" auf zu Gott, "von dem herab alle gute und vollkommene Gabe kommt".
Der mitten in der Notzeit begonnene Bau der Kirche, so wünscht es sich der Verfasser der Urkunde, solle auch dazu beitragen, "an dem Wiederaufbau unseres armen und doch so heiss [sic!] geliebten deutschen Volkes und Vaterlandes" mitzuwirken. In Fortführung dieser Gedanken leite sich auch der Name der Kirche ab: "Doch weil wir Gott allein in seinem Sohne, unserm Heiland und Erlöser, wohlgefallen können, weil wir in seiner Erlösungstat allein Rettung und Hilfe, Gnade und Trost, Heil und Frieden finden, so sei dies Gotteshaus zum Gedächtnis an sein versöhnend Leiden und Sterben Erlöserkirche genannt", lautet der Text der Urkunde.
Geburtsstunde der Kirchengemeinde in Gerolzhofen
Wer den für heutige Ohren pathetisch klingenden Überschwung des Textes nachvollziehen möchte, der muss sich vertraut machen mit der Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde in Gerolzhofen. Denn diese hängt unmittelbar mit dem Bau der Erlöserkirche zusammen. Erst kurz vor dessen Beginn war die Kirchengemeinde in Gerolzhofen am 20. Juni 1922 als Tochter der Pfarrgemeinde Bimbach genehmigt worden. Sie bestand aus den evangelisch-lutherischen "Bekenntnisgenossen", wie es in der Urkunde im Grundstein heißt, in den Bezirken der bürgerlichen Gemeinden Gerolzhofen, Rügshofen, Mönchstockheim, Bischwind, Michelau, Dingolshausen, Prüßberg und Geusfeld.
Nicht einmal 50 Jahre zuvor, in den 1880er Jahre, deutete wenig bis nichts darauf hin, dass es in Gerolzhofen einmal eine feste evangelische Kirchengemeinde geben könnte, die auch noch über ein eigenes Gotteshaus verfügt. Entsprechende Dokumente aus dem Gerolzhöfer Stadtarchiv, die der frühere Stadtarchivar Martin Frey im Mai 2021 säuberlich zusammengetragen und teilweise transkribiert hat. Die Schriftstücke und Notizen sind ein beredtes Zeugnis dafür, wie es um die evangelischen Gläubigen in der Stadt stand – aber auch ein Beleg für den hartnäckigen Kampf um eine eigene Kirche.
Überschaubare Zahl evangelischer Christen
Den Angaben Freys zufolge kamen erste protestantische Bürger in der bayerischen Zeit, also ab dem frühen 19. Jahrhundert, nach Gerolzhofen, vermutlich aber erst nach der Märzrevolution von 1848. Diese wurde hier aber kaum sesshaft. So lebten in der Stadt laut der Volkszählung von 1867 erst 31 Einwohner evangelischen Glaubens, also etwa vier Familien.
Über deren Bezug zu Glauben und Kirche zeichnete der zuständige Pfarrer Schumann aus Bimbach im Jahr 1886 in einem Bericht zu den Verhältnissen der Protestanten in Gerolzhofen ein geradezu verheerendes Bild. Die meisten waren aus Sicht des Pfarrers "geistig todte [sic!] Leute", die sich um ihre Religion wenig scherten. Er nannte aber zugleich Gründe, die zu diesem Missstand, dem, wie er es nannte, fehlenden "Hunger nach dem Evangelium" in der Diasporagemeinde führten. Allem voran stand für ihn der Umstand, dass den Glaubensgenossen ein fester Ort für Gottesdienste fehlte.
Bitte um Nutzung einer vorhandenen Kirche scheiterte
Auf Druck übergeordneter kirchlicher Stellen fragte der Bimbacher Pfarrer den Recherchen Freys zufolge beim Gerolzhöfer Stadtmagistrat im Dezember 1886 nach, ob die Protestanten nicht eine der kleineren Kirchen in der Stadt, etwa die Spitalkirche, die Friedhofskirche St. Michael oder die Johanniskapelle neben der Stadtpfarrkirche für ein paar wenige Gottesdienste im Jahr – er spricht von etwa drei – nutzen dürften. Doch dieser Vorstoß scheiterte.
Im Jahr 1898 gründete sich der Evangelische Kirchenbauverein Gerolzhofen und erhielt von der Stadt gleich zu Beginn einen kostenlosen Bauplatz geschenkt. Über dessen Wirken in den ersten Jahren ist nichts überliefert. Im Jahr 1911 erwirkte der Verein immerhin vom Stadtrat das Zugeständnis, zu den seit 1903 gestatteten monatlichen noch drei weitere Gottesdienste an hohen Festtagen im unteren Rathaussaal feiern zu dürfen. Jeden Mittwoch hielt damals der Bimbacher Pfarrer Religionsunterricht für 20 Schüler in Gerolzhofen und die Gottesdienste wurden seinerzeit nach einem Bericht des Vereins stark genutzt.
Entwurf für Gotteshaus lag schon vor dem Weltkrieg vor
Die Zahl der evangelischen Gläubigen war bis zum Jahr 1910 auf knapp 130 Köpfe gewachsen. Da der Weg zum Gottesdienst in den umliegenden evangelischen Kirchen in Bimbach oder Krautheim beschwerlich war, wuchs der Wunsch, in Gerolzhofen endlich eine eigene Kirche zu haben. Es fehlte allein am nötigen Geld. Denn laut eines Entwurfs des Architekten Schulz von 1913 für eine Kirche mit etwa 200 Sitzplätzen würde diese 57.000 Mark kosten, inklusive des Baus eines Pfarrhauses. Dem Kirchenbauverein standen aber zusammengerechnet nicht einmal 5000 Mark zur Verfügung. Doch nicht nur der Geldmangel, auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 rückte den Kirchenbau zunächst in den Hintergrund.
Im Jahr 1921 gestattete der Stadtrat auf Nachdruck der evangelischen Gläubigen, dass diese in Schulsälen Gottesdienst feiern dürfen. Diese wurden jedoch, wie dokumentiert ist, von "ungezogenen" Jugendlichen ebenso gestört, wie die Gottesdienste, die im eigentlich dafür ungeeigneten Vorsaal eines Gasthauses unter widrigen Umständen stattfanden.
Katholische Pfarrei wollte keine Kirche hergeben
Auch der im Jahr zuvor erneut vorgetragene Wunsch auf eine leihweise Überlassung der Friedhofskirche für evangelische Gottesdienste scheiterte – am Einspruch des katholischen Pfarrers, der "grundsätzliche Erwägungen" vorgab. Dasselbe galt für den ebenfalls im Jahr 1920 erbetenen Kauf der damals heruntergekommenen Johanniskapelle durch evangelische Christen. Auch dem schob die katholische Kirche als Besitzer sofort einen Riegel vor, und das, obwohl die evangelische Seite eindringlich darum gebeten hatte, "einmal alle konfessionellen Gegensätzlichkeiten in den Hintergrund treten zu lassen und an die gemeinsamen Hochziele zu denken".
Die Hoffnung auf eine mögliche Finanzierung einer eigenen Kirche ruhte folglich auf Spenden aus anderen evangelischen Kirchengemeinden und sogar auf Ebene der Landeskirche in Form von Sonderkollekten. Eine zusätzliche Brisanz erhielt das Vorhaben dadurch, dass die für Gottesdienste bereitstehenden Wirtshaussäle zum Herbst 1921 sowie ein weiterer im Sommer 1922 gekündigt wurden, so dass seit Pfingsten 1922 kein evangelischer Gottesdienst in Gerolzhofen mehr gefeiert werden konnte, wie den Unterlagen zu entnehmen ist. Der Bau einer Kirche für die seinerzeit 230 Seelen zählende evangelische Gemeinde Gerolzhofen erschien damit unabdingbar.
Spendenaufruf spricht von "ungeheuerlichen" Kosten
"Soll überhaupt noch ein evangelisches kirchliches Gemeindeleben in Gerolzhofen weiterbestehen, so muss gebaut werden", heißt es in einem Aufruf zur großzügigen Kollekte des Bimbacher Pfarrers vom im Juli 1922. Die Gerolzhöfer Diasporagemeinde befände sich in "äußerster Not". Die Kosten, die "ungeheuerlich" sein werden und alles in allem eine Million Mark erreichen dürften, könnten nur gemeinsam getragen werden, rief der Pfarrer zur Spende auf.
Dass die erwartete Bausumme gegenüber den Berechnungen des Architekten vom Vorabend des Ersten Weltkriegs dermaßen in die Höhe geschossen waren, lag an der im Jahr 1922 bereits grassierenden Hyperinflation im Land. Diese beschreibt auch die Urkunde im Grundstein der Erlöserkirche mit mehreren Preisbeispielen. So kostete etwa ein Ei im Jahr 1912 noch fünf bis zehn Pfennige. Zehn Jahre später zahlte man für ein Ei das Hundertfache, fünf bis zehn Mark. Der Preis für einen Dachziegel hatte sich im selben Verhältnis verteuert, von sechs Pfennige auf sechs Mark. Ein Kubikmeter Bauholz kostete jetzt 3000 statt 20 Mark.
Grundsteinlegung lockte Gäste aus der ganzen Region an
Trotz der Sorgen dieser Zeit, die aktuelle Inflationsraten und Baupreissteigerungen bei weitem übertrafen, ist leicht verständlich, dass das Fest der Grundsteinlegung dennoch ein Tag der Freude für alle Beteiligten wurde, wie es ein zeitgenössischer Zeitungsbericht im "Boten vom Steigerwald" beschreibt. Es herrschte ein "ungeheurer Andrang", steht dort zu lesen. Es seien evangelische Christen aus der ganzen Umgebung, ja bis aus Kitzingen nach Gerolzhofen gekommen, als es im Festzug, begleitet von Posaunenbläsern, zum Bauplatz ging. Dort wurde der Grundstein von den Ehrengästen mit über 30 symbolischen Hammerschlägen dort befestigt, wo er bis heute ruht.
Die evangelische Kirchengemeinde Gerolzhofen feiert die Grundsteinlegung für die Erlöserkirche während eines Festgottesdienstes am Sonntag, 7. August, um 9.30 Uhr.