Es geschah (auch) am helllichten Tag: Mit Anneliese Schneider ist noch eine von mehreren Zeitzeugen vor Ort, beim Gedenken an die Novemberpogrome 1938. Am 7. November hatte der jüdische Pole Herschel Grynszpan in Paris den Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath niedergeschossen. Die NS-Führung nahm das Attentat als Vorwand für mehrtägigen Staatsterror gegen die jüdische Minderheit im Reich.
"Wir Kinder mussten nachts ja schlafen", erzählt Schneider, die 1933 geboren worden ist. Sie kann sich aber noch gut an die SA-Männer erinnern, die auch tagsüber Betten aus den Fenstern geworfen haben. Ebenso an das Dienstmädchen der Familie Weiler, die sich in Panik ins Haus von Annelieses Eltern flüchtete. Für sie als Kinder sei es normal gewesen, mit den jüdischen Nachbarskindern zu spielen, berichtet die Seniorin: "Am Ende durften wir es nicht mehr".
Bei der Gedenkstunde zum 9. November, vor der ehemaligen Synagoge und jetzigen Gemeindebücherei, wurde zugleich ein Mahnmal eingeweiht, im Rahmen des unterfränkischen Erinnerungsprojekts "DenkOrt Deportationen". Elf weiße Rosen wurden in Erinnerung an die elf ermordeten Niederwerrner niedergelegt, die auf der Personenliste der Online-Präsentation (https://denkort-deportationen.de) verzeichnet sind. Die Anzahl der Opfer mit Bezug zur (im 19. Jahrhundert noch blühenden) jüdischen Gemeinde Niederwerrns war aber weit höher.
Rund 200 Menschen haben sich mit Kerzen am Löb-Kent-Platz versammelt, darunter Bürgermeisterin Bettina Bärmann mit Stellvertretern, Landrat Florian Töpper, Kreisrat Oliver Brust oder Vizebürgermeister Martin Schlör aus Geldersheim (wo die Gemeinde das Denkmal mitträgt). Aber auch viele ältere und junge Menschen unterschiedlichster Herkunft waren da. Der Posaunenchor spielte, der Gesangsverein stimmte "Herr, deine Liebe" und das "Shalom Chaverim" an.
Bürgermeisterin Bettina Bärmann erinnerte an deutsche "Schicksalstage" rund um den 9. November, an den Waffenstillstand 1918 oder den Mauerfall 1989. Aber eben auch an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, den organisierten Hass gegen die Juden. Die Zeiten seien heute andere, das Individuelle stehe im Vordergrund, so Bärmann.
Thesen, man könne Millionen Menschen zu einer Gruppe zusammenfassen, sie als namenlose Teile eines Ganzen sehen, wirkten da wie "aus der Zeit gefallen". Es gebe weiterhin jüdisches Leben in Europa, auch wieder in Deutschland, leider aber auch antisemitisches Gedankengut aus der Mitte der Gesellschaft.
Der "DenkOrt Deportationen 1941 bis 1944" wolle an die 2069 aus Würzburg deportierten Unterfranken erinnern (von denen 63 überlebt haben): als partizipatives Denkmal, das an "Menschen wie wir" erinnern soll, mit einem symbolischen Gepäckstück am Würzburger Hauptbahnhof und einem jeweiligen Gegenstück in den Heimatgemeinden.
Der künstlerisch gestaltete Holzkoffer am Löb-Kent-Platz (benannt nach dem Stifter der Niederwerrner Synagoge) wurde von der Holzbildhauerschule Bischofsheim geschaffen. Exemplarisch stellte Bärmann Landwirtssohn Harry Theilhaber vor. Der Spross einer alteingesessenen Niederwerrner Viehhändler-Familie lebte in Haus Nr. 29, beim Novemberpogrom wurde er ins KZ Dachau verschleppt. Den Eltern gelang 1939 noch die Flucht nach Südafrika, er selbst wurde systematisch enteignet und entrechtet. Aus Frankfurt wurde Harry Theilhabers Familie 1941 ins Ghetto Minsk verschleppt, wo sich die Spur der Eltern und zwei kleinen Kinder in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis verliert.