Giovanni Maio, Professor an der Universität Freiburg, ist Mediziner und Philosoph. Er befasst sich mit Fragen der Bio- und Medizinethik. Vor zwei Jahren sprach er beim Schweinfurter Geriatrietag „Vom Sinn des Alters – Jenseits des Jugendwahns“. Am Freitag, 18. Oktober, spricht er um 19 Uhr in der Rathausdiele im Rahmen des Programms zu 20 Jahren Hospizverein über den Wert der letzten Lebensphase: „Wenn das Annehmen wichtiger wird als das Machen – Für eine neue Kultur der Sorge am Ende des Lebens“.
Giovanni Maio: Es bedeutet, dass man mit dem Credo der Machbarkeit anderen Menschen, die im Sterben liegen, nicht wirklich helfen kann. Im Angesicht der begrenzten Zeit, die noch bleibt, geht es vor allem um das Annehmenlernen. Es geht darum, dem Anderen zu helfen, Frieden zu schließen mit seinem Leben. Das wesentliche Leid am Ende des Lebens sind nicht vorrangig die körperlichen Schmerzen, die man ja meist gut behandeln kann. Es ist meist der seelische Schmerz darüber, dass man keine Zukunft mehr hat, zumindest nicht hier. Für viele Menschen stellt sich dann zum ersten Mal die Frage, in welchem Licht das eigene Leben auftaucht.
Maio: Es ist wichtig, den Sterbenden zu helfen, sich und ihr sich abschließendes Leben anzunehmen, so wie es war, und ihren Frieden mit der Tatsache zu finden, dass jedes Leben immer fragmentarisch bleiben wird, ein Bruchstück sozusagen. Sich damit anzufreunden, ist ein schwerer Weg. Die Begleiter halten Menschen dazu an, von diesem Machbarkeitsdenken abzurücken, vom Anspruch, dass immer alles perfekt sein muss. Man muss im Gegenzug ein Stück Gelassenheit neu lernen. Dann kann man anerkennen, dass das eigene Leben so, wie es war, ein wertvolles Leben war.
Maio: Es bedeutet, dass das Leben, das jetzt bevorsteht, nicht mit Aktivitäten gefüllt werden muss. Sondern, dass man diese Zeit nutzt, um inneren Frieden zu finden. Es gibt vielleicht keine Hoffnung auf Heilung mehr, aber dennoch bleiben Potenziale, Ressourcen, Perspektiven, und seien sie auch noch so klein. Diese letzte Lebensstufe ist nicht nur Krankheit, sie ist zunächst einmal Leben. Aber oft wird das Leben, wenn man krank geworden ist, als Ganzes nur noch als Defizit gesehen und total entwertet.
Maio: Genau das gilt es zu revidieren. Es ist natürlich wichtig, dass alles getan wird, was möglich ist, um zu heilen oder Lebenszeit zu gewinnen. Aber die Medizin ist da viel zu einseitig. Sie will immer etwas tun, und wo sie nicht heilen kann, fühlt sie sich machtlos. Sie meint, sie muss zum Beispiel Chemotherapie ansetzen, um Hoffnung zu vermitteln. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass man diese innere Einstellung des Bekämpfens ein Stück weit relativieren muss. Vielmehr muss man dazu anleiten, auch mit dieser Krankheit, die man nicht mehr heilen kann, leben zu lernen. Dabei geht es nicht darum, sich schicksalsergeben auszuliefern. Man muss erkennen, dass diese Krankheit nun einmal da ist, auch wenn ich sie mir nicht gewünscht habe. Ich glaube, dass jeder Mensch Krankheit bewältigen kann, indem er sie annimmt als Teil seiner Lebensgeschichte. Dann hat er die Chance, auf seine eigene Art mit dieser Krankheit umzugehen. Darum geht es: einen eigenen Weg finden. Die Ärzte behindern das oft, weil sie den Patienten zu leichte Rezepte anbieten. Sie werden von einer technischen Prozedur in die andere geschickt, immer mit dem Verweis, vielleicht hilft das. Und dabei liegt das eigentliche Mittel zur Bewältigung der Krankheit eben in einem selbst. Selbst wenn die Krankheit nicht geheilt werden kann, besteht eben die Chance, sie innerlich zu bewältigen.
Maio: Er muss sich immer vergegenwärtigen, dass seine Kunst nicht mit der technischen Machbarkeit aufhört, sondern dass diese Kunst vor allen Dingen in der menschlichen Zuwendung liegt, im Verstehen, im Beistand. Selbst wenn der Arzt auf eine Chemo verzichtet, kann er Hoffnung vermitteln. Ich vertrete eine Ethik der Hoffnung, weil es auf die Hoffnung zentral ankommt. So kann man als Arzt zum Beispiel auch sagen: „Die Zeit ist begrenzt, aber du hast Grund zur Hoffnung, weil wir dir die Zuversicht geben, dass wir dich nicht alleine lassen werden. Hab Hoffnung, dass die Zeit, die dir verbleibt, eine gute Zeit sein kann. Weil wir uns mit dir solidarisieren. Weil du für uns nicht eine Last oder ein Versorgungsauftrag bist, sondern jemand, der uns wertvoll ist.“ Eine solche Kultur der Wertschätzung müssen alle heilenden Berufe auf den Weg bringen.
Maio: Als Ethiker versuche ich auf eine Notwendigkeit hinzuweisen, die für jeden Menschen gilt: Als denkendes Wesen ist der Mensch immer darauf ausgerichtet, einen Sinn zu finden. In dem, was er tut, und im Leben ganz allgemein. Und das betrifft nicht nur Menschen, die gläubig sind. Wir können ohne die Frage nach dem Wohin und dem Wozu nicht leben. Aber die meisten Menschen denken über diese Fragen zum ersten Mal nach, wenn sie krank werden. Ärzte und Pflegende müssen offen sein für diese letzten Sinnfragen. Es geht nicht darum, Antworten parat zu haben, sondern Offenheit für diese Art Spiritualität zu zeigen, die sich am Ende des Lebens verstärkt einstellt. Die rationale, technische Medizin allerdings ersetzt die Frage nach dem Sinn durch die Frage nach der Zweckmäßigkeit.
Maio: Deshalb plädiere ich für eine neue Kultur der Angewiesenheit. Das Angewiesensein auf die Hilfe Dritter ist das Normalste der Welt, weil der Mensch von Grund auf ein angewiesenes Wesen ist. Er ist es sein Leben lang, nur wird ihm das am Ende des Lebens stärker bewusst. Wir müssen daher eine Kultur auf den Weg bringen, die aufzeigt, dass gebrechliche Menschen nicht eine Defiziterscheinung darstellen, sondern Sinnbild sind für das, was der Mensch ist: ein endliches Wesen, das nicht alleine existieren kann.
Maio: Die Hospizhelfer stehen damit tatsächlich im Gegensatz zur allgemein üblichen Zweckrationalität. Sie sind aber das Salz der Erde. Und so müsste das Salz, das das sich abhebt vom sonst vorherrschenden Effizienzdiktat, von Anfang an da sein, nicht erst in der letzten Phase. So kann Pflege nicht auf Körperpflege und Verbände reduziert werden. Pflege braucht eine Ethik der Sorge. Und das bedeutet, dass ich dem Anderen ein Gesicht gebe. Der Andere muss als Individuum in Erscheinung treten, damit ich ihm helfen kann. Und das ist in der gegenwärtigen ökonomischen Rationalität verloren gegangen. Die Menschen werden gut versorgt, aber sie werden nur noch als Versorgungsgegenstände wahrgenommen. Und dann haben sie auch das Gefühl, anderen nur zur Last zu fallen.
Maio: Es ist das Selbstverständlichste, dass wir uns der unheilbaren Menschen annehmen. Weil es unser Auftrag ist, für sie da zu sein. Das ist nicht nur Mühe, sondern Bereicherung zugleich, das bezeugen viele Hospizbegleiter. Diese sterbenden Menschen geben uns viel, weil sie aufzeigen, wie man umgehen kann damit, dass man nicht mehr alles machen kann. Es ist eine Rückerinnerung daran, was es heißt, Mensch zu sein.
Maio: Wir haben diesen Gedanken auf den Bereich der Alten und Sterbenden verlagert. Das ist grundlegend falsch. Wir müssen uns von Anfang an unserer Endlichkeit bewusst sein – auch in jungen Jahren und in der Blüte unserer Kraft. Das Leben ist eben eine zeitlich sehr begrenzte Erscheinung. Wir können nur bewusst leben in der Vergegenwärtigung der Endlichkeit. Sonst würde das ganze Leben an Tiefe verlieren. Dann würden wir sagen, was ich heute tun könnte, könnte ich auch in 20 Jahren tun. Diese Begrenzung ist also nichts, was man betrauern muss, sondern ein Glücksfall. Das Leben ist ein Geschenk, dessen Kostbarkeit wir uns jeden Tag neu vergegenwärtigen müssen. Ein Geschenk, das uns jederzeit genommen werden kann. Die Endlichkeit ist es also, die im Leben überhaupt erst Sinn und Tiefe ermöglicht. Die heute übliche Zelebrierung der Jugendlichkeit ist eine Verdrängung der Grundelemente des Menschseins und eine Negativbewertung der letzten Lebensphase, die ich nicht für richtig halte. Das Alter ist etwas sehr Sinnstiftendes, weil in dieser Phase viele Dinge klarer werden als zuvor. Es ist die Unterstützung vieler helfender Menschen, die zu einer neuen Aufwertung der letzten Lebensphase entscheidend beiträgt, indem sie zum Ausdruck bringt, dass diese Menschen auch und gerade in ihrer Hinfälligkeit uns viel bedeuten.
Giovanni Maio: „Wenn das Annehmen wichtiger wird als das Machen – Für eine neue Kultur der Sorge am Ende des Lebens“. Freitag, 18. Oktober, 19 Uhr, Rathausdiele. Im Rahmen des Programms zu 20 Jahren Hospizverein.