Ich bekomme das Titelfoto auf der Main-Post vom Karsamstag, 11. April, nicht aus dem Sinn: eine Rückansicht von Bischof Franz Jung. Er steht am großen Altar im leeren Dom und feiert in Corona-Zeiten einen Gottesdienst, der vom Fernsehen übertragen wird. Er streckt seine Hände gerade zum Segen aus - und vor ihm der weite, leere Dom. Kein Mensch zu sehen, nur der Bischof von hinten. Und vor ihm die Leere.
Das Foto gab mir einen Stich ins Herz. Und die Frage krallte sich in meinem Hirn fest: Ist das Bild der leeren Kirche beim Gottesdienst in Corona-Zeiten nicht eine Vorahnung von dem, was sich in absehbarer Zeit einstellen wird? Unsere Kirchen und Gottesdienste bleiben zunehmend leer, wenn das jetzige Stammklientel, die Menschen über 70, nicht mehr da sein werden und niemand mehr die leer gewordenen Plätze füllt.
Ich stelle mir als Pfarrer diese Frage ohne Resignation, ich stelle mir diese Frage auch ohne Vorwurf an eine immer mehr säkularisierte Gesellschaft. Ich stelle mir diese Frage als Kirchenmann, uns als Kirche: Welches Gesicht wird in zehn, zwanzig Jahren das Christentum und unsere Kirche zeigen? Wo und wie wird sich kirchliches Leben entwickeln? Welche Herausforderung stellen die immer leerer werdenden Kirchen an die Pastoral? Wie stellen wir uns als Kirche in Zukunft auf? Mir wird immer klarer: Das traditionelle Bild der Volkskirche wird mehr und mehr verschwinden.
In Corona-Zeiten mache ich zur Zeit eine besondere Erfahrung. Was ich sonst nie aus einer gewissen Angst, meine Pflicht nicht zu erfüllen, gemacht habe: In Corona-Zeiten gehe ich fast jeden Tag am Nachmittag eine Stunde spazieren, trage nebenbei Pfarramts- oder Geburtstagsbriefe aus. Auf dem Weg begegne ich immer Menschen. Ohne ein bestimmtes System, rein nach Zufälligkeitsprinzip sprechen mich Menschen an oder komme ich mit Menschen ins Gespräch. Ich begegne fast jeden Tag dem alten Mann, der allein lebt und allein Stunden lang durch die Gassen geht. Ich treffe auf eine Frau, die mir von ihren Konflikten daheim erzählt. Ich erfahre per Zufall in einem Gespräch von der schweren Krankheit einer Frau, die zu unseren regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gehört.
Beim Vorbeigehen an einem Schrebergarten ruft mir ein Mann zu: „Oh, der Pfarrer geht heut mal spazieren. Ich hätt' en Schoppen in mein Gartenhäusle“ und er erzählt, was ihm dieser Garten im Rentenalter bedeutet. Ich finde auf dem Weg einen Personalausweis und frage mich dabei, wie viele Menschen kenne ich in unseren Gemeinden wirklich mit Namen und was weiß ich von ihrem Leben? Mir fällt Papst Franziskus in seiner Gründonnerstagspredigt ein, der bewundernd von einem Landpfarrer erzählt, der sogar jeden Hund seines Dorfes mit Namen kennt. Und ich freue mich, dass sich eine Frau über den Fund ihres Personalausweises freut. Ich denke auf dem Weg an Menschen, die am Sterben liegen und bete für sie. Mir fallen Ideen über eine neue Form der „ewigen Anbetung“ ein. Ich tue nichts besonderes, ich gehe einfach spazieren, ohne System, ohne Plan, reines Zufälligkeitsprinzip und doch passiert etwas. Einfach als Mensch unter Menschen.
Diese Spaziergang-Erfahrung während der Corona-Zeit bringt mich schwer zum Nachdenken. Und ich frage mich: Ist das nicht der Weg der zukünftigen Pastoral? Ist der Mensch, dem ich gerade begegne, nicht der Weg der Kirche der Zukunft? Ohne Absicht im Hinterkopf einfach da sein mit der Möglichkeit, angesprochen zu werden und Menschen anzusprechen. Nicht mühsam das Hirn verrenken, welche kirchliche Angebote könnten Menschen von heute ansprechen, sondern einfach hinausgehen, ins Gespräch mit Menschen kommen - ohne die Absicht, Menschen in die Kirche zu bekommen.
Und mir wird beim Spazierengehen wieder mal bewusst: Jesus war kein Tempelpriester, der große Gottesdienste feierte. Er war ein „Spaziergänger“, ein Wanderer auf den staubigen Straßen des Alltags, auf denen er Menschen begegnete. Mich beeindruckt immer die Bemerkung im Markusevangelium: Er ging von hier nach dort, von dem einem Ort zum anderen. Und vor allem die Stelle: „Jesus verließ die Synagoge und ging zusammen mit Jakobus und Johannes gleich in das Haus des Simon und Andreas“ (Mk 1,29). Und ich frage mich: Hat Jesus mit seinem Lebensstil nicht den Weg einer glaubwürdigen Erscheinungsform der Kirche der Zukunft aufgezeigt?
Und ich frage mich auch: Wenn Corona vorbei sein wird, wenn die Terminflut wieder über dich hereinbricht, wirst du dann wieder in alte Muster zurückfallen oder nimmst du dir auch nach Corona noch manchmal die Zeit zum Spaziergang, um absichtslos, aber mit offenem und wachsamen Blick einfach unterwegs zu sein, ansprechbar für diejenigen, die mit mir sprechen möchten?
Magnus Lux
Schonungen