Heisenberg. Der große Physiker und Nobelpreisträger gibt zwar dem Drama seinen Namen, als Mensch spielt er in Simon Stephens Theaterstück jedoch keine Rolle. Präsent ist er mit seiner Unschärferelation, übersetzt ins Psychologische, was Regisseur Gerd Heinz vereinfacht so erklärt: "Die Unschärferelation besagt, dass das, was ich beobachte, sich durch das Beobachten verändert." Heinz hat das Stück eines der aktuell meist gefragten englischen Autoren für das Ernst-Deutsch-Theater Hamburg inszeniert, in Schweinfurt fand jetzt die gefeierte Tourneepremiere für das Euro-Studio Landgraf statt.
Was zunächst vielleicht etwas abgehoben, papieren klingt, erweist sich als eine sehr menschlich anrührende Begegnung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Alex, der 75-jährige Metzger, in sich verschlossen, dem Leben eher abgewandt, sie, Schulsekretärin Georgie, die quirlige Anfangvierzigerin, die schneller spricht als denkt, begegnen sich zufällig auf einem Londoner Bahnsteig, kommen miteinander ins Gespräch. Das ist insofern nicht ganz richtig, als sie ihn mit einer Fülle ihrer wieder variierten, widersprüchlichen Lebensgeschichten überschüttet und er eher genervt einsilbig reagiert.
In sechs Bildern kommt sich das Paar immer näher. Er hat früh Schwester verloren, eine erste Liebe wurde jäh beendet. Böse Träume plagen ihn, seit 67 Jahren führt er täglich Tagebuch, immer 50 Wörter, seine Art sich an seinem Leben abzuarbeiten. Es hat ihn mürrisch, schüchtern, misstrauisch gemacht. Sie hingegen plappert scheinbar unbefangen, vom Mann, der sie hat sitzen lassen, vom Sohn, der sich jeden Kontakt verbietet und wohl in den USA lebt. Gern hört sie sich fluchen, merkt gar nicht, wie verletzend sie sein kann.
Stephens arbeitet mit einem subtilen Sprachwitz. Die Szenen brechen plötzlich ab, der Zuschauer kann nicht ahnen wie es weitergeht, immer wieder schlägt die Handlung überraschend Volten. Heinz findet dazu den stimmigen Rhythmus zwischen vorantreiben, ruhig verharren.
Lilot Hegis' Bühne ist sehr spartanisch. Im Hintergrund ein mächtiger Findling, für den es keinen Sinn zu geben scheint, davor eine Metallbank auf dem Bahnhof, ein Fleischertisch, dann ein paar Restauranttische. Schön die Idee, das jeweilige Ambiente zu Beginn einer Szene in großen Strichen auf einen Vorhang zu projizieren.
Für den 83-jährigen Charles Brauer (einst Tatort-Kommissar Peter Brockmöller) und Anna Stieblich ("Türkisch für Anfänger"), 54, ist das allererstes Schauspielerfutter. Anrührend, wie sie sich allmählich näherkommen, wie Alex' Schale aufbricht, er von Gefühlen sprechen kann. In einer Zeit, in der die Streit- und Gesprächskultur verödet, finden sie zueinander. Das ist für Gerd Heinz die politische Dimension dieses wunderbaren, melancholischen Märchens.
Am Schluss erklärt sich auch der Findling. Das Paar ist auf der schließlich vergeblichen Suche nach Georgies Sohn in die USA gereist. Nun sitzen sie auf dem Stein, blicken in die Ferne. Zwei Menschen haben sich gefunden.