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NIEDERWERRN
Ein Notizbuch überliefert die Schrecken des Krieges
Günther Schäfer mit einem Foto seines Vaters Edmund, der im Krieg Tagebuch geführt hat.
Foto: Uwe Eichler | Günther Schäfer mit einem Foto seines Vaters Edmund, der im Krieg Tagebuch geführt hat.
Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:51 Uhr

„Ist die Welt schon ganz und gar verrückt?“, notiert Edmund Schäfer Anfang 1944 in sein Tagebuch, als die Ostfront südöstlich Witebsk eingefroren ist. 80 Zentimeter tief ist der Boden vereist, im weißrussischen Winter. Statt Graben heißt es Sprengen. Silvester, in einer alten Stellung, hatte es noch „eine tolle Feier mit Massenabschießen von Leuchtkugeln“ gegeben. „Der Iwan steht Kopf“, vermutete da der 20 Jahre junge Flaksoldat aus Schweinfurt. Der Russe wisse vermutlich gar nicht mehr, wo die HKL, die „Hauptkampflinie“, verlaufe. Wenig später stellen die Deutschen in Frost und Schnee fest: Sie wissen es selber nicht. Ein Spähtrupp findet heraus, dass sie inmitten der gegnerischen Linie sitzen.

Ab dem 1. September 1939 hat der Justizbeamtensohn aus Keilberg (bei Aschaffenburg) seine Kriegserfahrungen in ein kleines Notizbuch geschrieben – und seinem Sohn Günther Schäfer hinterlassen, ehemals Leiter des Jugendzentrums „Komma“ in Schweinfurt, der in Niederwerrn lebt. Kleine Bilder zeigen den Werdegang: Bei Kriegsausbruch wurde der Teenager zur Feuerwehr-HJ nach Schweinfurt einberufen, mit Zentrale am Zeughaus. 1941 gibt es für die Schar eine Belobigungs-Urkunde durch Oberst Schnell, Chef der Berliner Luftschutzpolizei. Dann ruft der Nürnberger Reichsarbeitsdienst.

Im April 1942 wird Schäfer zur schweren Flak nach Breslau eingezogen, nach Schulung in Stolpmünde an der Ostsee (das heute polnische Ustka) geht es nach Hamburg. Am 9. November 1942 vermeldet der Neuling seine „Feuertaufe“ am Geschütz mit dem Abschuss eines Wellington-Flugzeugs.

Der schlammige Weg in den Osten

Im Mai 1943 führen schlammige Wege ins „Paradies im Osten“, nach Jelnja bei Smolensk. Ruhigere Tage, im Bunker oder runden „Finnenzelt“ aus Sperrholz, wechseln sich ab mit jähen Stellungswechseln und Luftangriffen. Die „Achtacht“ ist eine gefürchtete Waffe, gegen Bodenziele ebenso wie Iljuschin-Schlachtflieger und Petljakow-Bomber, die gerade deswegen Beschuss auf sich zieht. Die Eindrücke werden persönlicher. „Wir schlafen in jeder Lage“, heißt es im Frühherbst: „Regen, Schlamm bis zu den Knien, allgemeines Stiefelsuchen im Dreck.“ „In der Hölle“ ist der Eintrag vom 17. September überschrieben, ein Dorf wird in Brand geschossen, am Abend liegen die Artilleristen selbst unter Dauerfeuer.

In letzter Not gelingt der Ausbruch. Der Gefreite ist ein loyaler Wehrpflichtiger, kein NS-Sympathisant. Einen Unteroffizierslehrgang hat Schäfer abgelehnt (er hätte ihn wohl nach Stalingrad gebracht), ein Bruder fällt im Krieg. Die Realität spürt er am eigenen Leib: „Tag für Tag, Nacht für Nacht keine Ruhe, nur Kampf bis zum letzten.“ Der Landesverteidiger, der „Iwan“, wird mitunter bewundert, etwa nach der Abwehr von Kosaken: „Heikle Angelegenheit, sind verwegene Burschen, diese Steppenreiter.“

Währenddessen geht Göring im Jagdrevier auf Pirsch

Mitte 1944 setzt der große Rückzug ein, bis nach Ostpreußen. Der feindliche Massenansturm ist nicht mehr aufzuhalten: „Man kann dies auf dem Papier niemals nicht ausdrücken“, schreibt der Franke und übt Kritik: „Wo ist Grimm, der Märchenerzähler?“ „Es war einmal eine deutsche Luftwaffe“. Womöglich denkt er an Reichsmarschall Hermann Göring, der sich im Oktober ganz in der Nähe aufhält, im „Reichsjägerhof Rominten“ bei Königsberg. Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe ist mit feudalem Sonderzug in sein Jagdrevier gefahren, geht in der Rominter Heide zum letzten Mal auf Pirsch und braust zurück. Görings Sonderfahrten sind berüchtigt. Laut Überlieferung müssen Verwundeten-, Munitions- und Flüchtlingstransporte warten, vor allem, wenn die Nazigröße halten lässt, um ein Schaumbad zu nehmen.

Während Görings Jagdausflug hält Schäfer im nahen Dorf Schlossbach die Stellung, dem heutigen Newskoje, Gebiet Kaliningrad. Am 18. Oktober wird die Einheit zersprengt, der Obergefreite und ein Kamerad Fritz harren im Trommelfeuer aus. Die Kanone wird hochgejagt, Edmund Schäfer schießt vier Luftwaffen-MGs heiß und flüchtet. Unterwegs wird ein Unteroffizier mitgenommen. Alle drei werden angeschossen, knapp entkommt Schäfer einem T34-Panzer, querfeldein im Wagen. Auf der Gegenseite stürmt Oberstleutnant Alexej Bulachow, 29, vom 97. Gardeschützenregiment dem Titel „Held der Sowjetunion“ entgegen, laut russischer Online-Gedenkseite.

„Einer muss schließlich den Deppen machen“

Das Tagebuch schließt mit der sowjetischen Offensive im Januar 1945, der Anfang vom Ende. „Aber wir stehen halt immer noch“, heißt es zuletzt sarkastisch, und in Klammern: „Einer muss schließlich den Deppen machen.“ Der Schweinfurter gerät in englische Gefangenschaft, arbeitet später für die Bundesbahn und als Küster in St. Kilian. 1979 stirbt der Familienvater, der schwer herzkrank aus dem Krieg zurückgekommen ist, mit 55 Jahren. Am „Krasny Les“, dem „Roten“ oder „Schönen Wald von Rominten“, ein Sperrgebiet an der Grenze zu Litauen und Polen, liegen heute noch frische Blumen am Ehrenmal: für deutsche wie russische Gefallene des Ersten Weltkriegs.

 
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