
„17. Januar 16.45 Uhr“, dieses Datum wird André Hubert ein Leben lang nicht mehr vergessen. Es sollte der Tag werden, der sein Leben völlig auf den Kopf stellte und seine Weltsicht grundlegend veränderte. Er hatte einen Arbeitskollegen nach Hause gebracht, war noch schnell einkaufen und dann nichts wie heim. Unter der Haustür empfing ihn seine Frau Ursula mit der kleinen Melina im Arm. „Wir müssen zum Kinderarzt“. „Erst war ich genervt, aber dann hab ich gleich gemerkt, es ist was Ernstes“, erinnert sich Hubert. .
Sofort ins Krankenhaus
Wie ernst bekam die Familie schnell zu spüren. Die Diagnose beim Kinderarzt war niederschmetternd, Melina hat Leukämie, muss am besten heute noch ins Krankenhaus. Um 18.30 kam die Familie in der Kinderkrebsstation an, bis 23.30 Uhr wurde die Kleine behandelt, ein Zugang gelegt und erste Therapieschritte eingeleitet. Sie war völlig verstört. Mama, was machst du mit mir, ich will heim. . .“ Fünfeinhalb Wochen bleib die Mutter mit Melina in der Klinik, der Vater pendelte hin und her.
Ursula Hubert ist krankgeschrieben, sie bekommt Krankengeld, aber auch der Vater braucht Zeit für sein Kind. Gleichzeitig braucht die Familie ja wenigstens einen Verdienst, denn von irgendetwas muss sie ja leben. Huberts Arbeitgeber, die Mainfrucht in Gochsheim, erwies sich als erste große Stütze. „Der Chef, hat mir jede Unterstützung zugesagt“, erzählt der Vater. Richard Grünewald meinte Kind und Familie gehen vor, der Vater durfte viele Tage zuhause bleiben, das Gehalt lief weiter.
Alle waren sofort bereit, zu helfen
Dann sah sein Kollege Klaus Metz einen Beitrag im Fernsehen, in dem einem alleinerziehenden Vater von seinen Kollegen Zeit geschenkt wurde. Die Idee fiel auf fruchtbaren Boden, er ging gleich zum Betriebsratsvorsitzenden Günter Fuß, der die Idee weiterverfolgte. Der Betriebsrat war gleich dabei, aber auch die Lohnbuchhaltung und der Chef unterstützen die Idee.
Fuß erklärt: „Wir haben den ganzen Betrieb informiert und eine Liste ausgehängt, in die man sich eintragen konnte.“ Wichtig war ihm die Aktion anonym zu machen, jeder sollte in seiner Entscheidung frei sein, die Kollegen trugen sich mit ihrer Personalnummer ein. „Wenn ich einen halben Tag oder einen Tag Urlaub spendiere, dann hab ich ja keinen finanziellen Verlust, ich verschenke halt Zeit“, erklärt Metz.
Die 127 Mitarbeiter der Mainfrucht haben letztlich 68,5 Tage verschenkt. Der einzige, der von dieser Aktion nichts mitbekam, war Hubert, der pendelte ja zwischen Marktsteinach und der Station Regenbogen in Würzburg hin und her und braucht seine Zeit und Kraft für Frau und Kind.
Melina hat inzwischen ihren vierten Geburtstag gefeiert und die dritte Chemotherapie hinter sich. Hubert ist einerseits beeindruckt, wie durchdacht und aufeinander abgestimmt man heute jedem Kind medizinisch helfen kann, andererseits führt ihn diese Hilfe auch manchmal an seine Grenzen. „Da musst du deinem Kind eine Tablette geben, die du selbst gar nicht anlangen darfst und du weiß, das ist das reinste Gift.“
80 Prozent Heilungschance
Die Heilungschance für Melina liegt bei 80 Prozent und wenn Hubert die anderen Fälle auf der Station Regenbogen anschaut, wird er bescheiden. „Wir dachten immer, dass die Haare ausfallen, Melina hatte so dichte Locken, aber das ist pillepalle“, weiß er heute. Auch dass sich andere Eltern verrückt machen, weil ihr Kind im Kindergarten noch kein R sprechen kann, ist ihm inzwischen völlig unverständlich.
Der Alltag der Familie ist von der Krankheit der kleinen Tochter völlig umgekrempelt worden. Wir sitzen quasi ständig auf gepackten Koffern, weil wir nie wissen, wann wir wieder nach Würzburg müssen. Melina darf nicht ins Freie, keinen Kontakt zu anderen besonders nicht zu Kindern und zu Tieren, sie hat ja durch die Chemo kein Immunsystem mehr. Die Pflanzen mussten aus der Wohnung, und diese wird ständig mit Desinfektionsmitteln geputzt. Die Isolation ist das Schlimmste für Melina, weiß die Mutter, „sie fragt ständig, wann sie wieder in den Kindergarten darf.“
„Ich war völlig von den Socken“
Am 17. Mai wurde Hubert, dann in die Firma zittert, Nichts Schlimmes hieß es vom Betriebsrat. Trotzdem ging er mit einem mulmigen Gefühl. Fuß wollte ihn auch anfangs noch etwas aufziehen, „aber dann hab' ich doch geschluckt“, erinnert er sich. Der Betriebsrat überreichte ihm eine vom Vater eines weiteren Kollegen gestaltete „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Ausführung zur Vorlage bei der Familie“. Darauf „verordnen die Kollegen“ ihm „Zeit mit der Familie zu verbringen, unterstützt und befürwortet vom Chef“. „Ich war völlig von den Socken“, erzählt Hubert.
Die Bescheinigung hat er gleich mit nach Würzburg genommen und dem Arzt auf der Station gezeigt. Sein Resümee: „Wer solche Kollegen hat, der geht doch gerne arbeiten.“
Da sieht man, dass die Welt doch nicht so schlecht ist. Es muss nur ein paar Leute geben, die an einem Strang ziehen. Gratulation an die Firma.