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Gerolzhofen
"Ein Gedicht, das mich zum Nachdenken bringt"
Viele Menschen fühlen sich wegen den aktuellen Corona-Kontaktbeschränkungen wie ein Raubtier hinter Gittern. 
Foto: Symbolbild Dirk Nitschke | Viele Menschen fühlen sich wegen den aktuellen Corona-Kontaktbeschränkungen wie ein Raubtier hinter Gittern. 
Pfarrer Stefan Mai
 |  aktualisiert: 02.05.2020 02:10 Uhr

Wie geht es Ihnen als Gesunde/r mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit, mit den vielen Stunden in der eigenen Wohnung? Wie geht es den Risikopatienten, die sich nicht mehr trauen auf die Straße hinauszugehen? Wie geht es der alleinerziehenden Mutter, die zwei kleine Kinder hat, die den Spielplatz gewohnt sind und dauernd daheim quengeln: „Mama, wann gehen wir wieder naus?“

Wie geht es den Familien mit Jugendlichen, in der eigentlich jeder am Morgen auf die Arbeit fährt und im normalen Alltag seine Wege geht. Wie geht es den Jugendlichen, für die das Wochenende erst richtig am Freitagabend um 23 Uhr beginnt, für die Ausgehen am Wochenende der große Ausgleich und Lohn für den Schul- und Unistress und die Arbeitsbelastung der Woche ist, wenn jetzt aber tote Hose angesagt ist? 

Pfarrer Stefan Mai aus Gerolzhofen.
Foto: Klaus Vogt | Pfarrer Stefan Mai aus Gerolzhofen.

Wie geht es Ihnen? Froh, über ein gemütliches Zuhause - oder halb am Durchdrehen, Gefühl wie in einem Gefängnis?

Beim Nachdenken darüber, wie es wohl zur Zeit Menschen mit der eingeschränkten Bewegungs- und Versammlungsfreiheit gehen mag, musste ich wieder einmal an ein bekanntes Gedicht des österreichischen Schriftstellers und Dichters Rainer Maria Rilke denken mit dem Titel „Der Panther". Es lautet:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
So müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
Und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
Der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
Ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
In der betäubt ein grosser Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
Sich lautlos auf. Dann geht ein Bild hinein,
Geht durch der Glieder angespannte Stille -
Und hört im Herzen auf zu sein.

Rilke besuchte im Jahr 1903 in Paris den botanischen Garten „Jardin des Plantes“, der zugleich als Zoo mit exotischen Tieren diente. Stundenlang saß er vor dem Käfig eines schwarzen Panthers und beobachtete ihn genau. Er selbst wohnte während dieser Zeit in einem beengten Hotelzimmer und war psychisch nicht auf der Höhe, ein Stück gefangen in sich selbst.

So wird es sofort klar, dass er nicht nur einen Panther beschreibt, der mit seiner Energie, seinem Freiheitsdrang nicht weiß, wohin damit, aber nichts anderes tun kann als im Kreis zu laufen. Der Wille des Panthers scheint gebrochen. Aus einem Tier mit einem geschmeidigen Gang, mit potentieller Kraft wird ein betäubtes Wesen, das nicht mehr die Welt um sich sieht und versteht und sich ein Stück weit selbst aufgegeben hat.

Rainer Maria Rilke beschreibt Menschen im Bild des Panthers Menschen, die sich in vielen alltäglichen Zwängen gefangen fühlen. Menschen, die total isoliert in unserer Gesellschaft leben, die sich daheim im Kreise drehn und keinen Kontakt zur Außenwelt mehr finden. Die nur noch eine innere Leere und nichts mehr von einem pulsierenden Leben spüren.

Bei Gott! Der Aufruf, zur Verlangsamung der Ausbreitung des Corona-Virus die Wohnung zu hüten und nicht zu allen Gelegenheiten die Wohnung zu verlassen, ist noch lange keine Wohnungshaft. Aber er mag vielleicht manchen von uns sensibel dafür machen, wie es wohl Menschen geht - die wie der schwarze Panther im Jardin des Plantes - tagein, tagaus die Härte der Gitterstäbe spüren. Die aber keinen haben, der ihnen eine Tür öffnet und auch selbst nicht mehr die Kraft haben, die Gitterstäbe aufzubrechen.

 
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