„Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?“ So fragt das bekannte Lied aus der Schubert-Messe. Generationen vor uns haben in lebensbedrohenden Epochen, im unerträglichen Leid, in aussichtslosen Lagen nach Identifikationsfiguren gesucht, vor denen sie gebetet, ihre Ängste und Sorgen sich von der Seele geredet oder hinausgejammert haben. Sie haben sich vor ihnen in unseren Kirchen hingestellt, sie angeschaut, ihren Schmerz mit dem Schmerz der Figur oder dem Bild des Dargestellten verbunden und haben sich im Leid verstanden gefühlt.
Zur Pieta kamen in Zeiten der hohen Kindersterblichkeit zuhauf die Mütter, die ihr Kind verloren hatten. Sie weinten vor der schmerzhaften Mutter Gottes, deren Mutterschoß zu einer Leichenbahre wurde, und beteten für ihr verstorbenes Kind und für sich um die Kraft, über den Schmerz hinwegzukommen.
Zu den alten Herz-Jesu Figuren mit dem Seitenwundenloch kamen die Menschen mit ihren Sorgen und steckten dort hinein ihre Zettel, auf denen sie ihre Sorgen und Bitten kritzelten, in der Hoffnung: Da versteht mich einer. Bei dem Schmerzensmann sind sie gut aufgehoben. Dem kann ich sie ans Herz legen.
An die Altäre des Hl. Sebastian mit den Pfeilen in der Brust kamen die Menschen in der Pestzeit, weil sie glaubten, die bösen Mächte schießen die giftigen Pestpfeile auf die Menschen herab. Sie wandten sich an ihn als Verbündeten und baten ihn um seine Fürsprache, dass Gott die Pest von ihnen abwende.
Ganz still und für die meisten Gerolzhöfer unbemerkt sitzt in der Spitalkirche eine Figur, die in der Kunstgeschichte „Christus in der Rast“ genannt wird. Sie zeigt den dornengekrönten Jesus, der verhöhnt und gequält im Hof des Pilatus auf sein Kreuz wartet. Das Urteil ist gesprochen - wider besseres Wissen hat sich der Statthalter den Massen gebeugt. Da sitzt Jesus, in sich versunken mit gefesselten Händen auf seinem Schoß, und wartet im Hof, bis sich der Zug der Soldaten formiert hat, die ihn nach Golgotha bringen sollen. Jetzt ist es endgültig: Drei Jahre Predigt vom Reich Gottes haben ihn hierhin gebracht.
Eine Welt ohne Vorurteil
Ich stelle mir vor, wie all die Menschen, denen er begegnet ist, noch einmal vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen: die Tochter des Jairus, der Hauptmann von Kafarnaum, der blinde Bettler Bartimäus, Maria von Magdala, der Mann mit der verdorrten Hand, der Gelähmte, den man durchs Dach hinabgelassen hat, der Mann am Teich von Bethesda und wie sie alle heißen. Er hat sich für Menschen eingesetzt - das ist die Bilanz seines Lebens. Ich wollte mit meinen zwölf Freunden auf eine Welt aufmerksam machen, wie Gott sie sich eigentlich vorstellt: Eine Welt ohne Vorurteil, Ausgrenzung, Hass und Neid, in der Menschen solidarisch handeln und einander zu Diensten sind. Aber selbst seine Freunde, die ihn in diesem Lebenstraum unterstützen sollten, haben sich aus dem Staub gemacht.
Eigentlich zum Verzweifeln. Aber dieser „Christus in der Rast“ strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Er schreit nicht und lärmt nicht. Er sitzt zwar gebeugt, aber in sich gefestigt da. Gefesselt und mit geschlossenen Augen auf einem Stein sitzend, vermittelt die Skulptur den Eindruck völliger Ruhe und Gelassenheit. Übermenschliche Leidensfähigkeit?
Ein Hoffnungsbild
Für mich ist unsere Figur des „Christus in der Rast“ ein Hoffnungsbild, dass es möglich ist, in allem Leid auch noch gefasst zu sein und nicht durchzudrehen. Eine Figur, die mir klar macht: Ich werde im Leben nicht von allem Schweren verschont, aber ich darf darauf hoffen, dass ich auch die nötige Kraft bekomme, das Schwere im Leben zu tragen.
Bis heute habe ich das Bild noch lebhaft vor Augen: Wenn ich am Morgen noch bei dämmriger Stimmung in die Küche meiner Großeltern kam, da sah ich beide genau in der Haltung des Christus in der Rast immer dasitzen: still in sich versunken, mit geschlossenen Augen, die Hände überkreuz, ruhig auf dem Schoß liegend. Ich wusste: Da beten zwei Menschen, die vier Kindern in jungen Jahren und einem Enkel ins Grab schauen mussten und dennoch nicht daran zerbrochen sind. Da ruhen zwei Menschen in sich oder besser gesagt im Glauben. Trotz der Schläge des Lebens, die sie einstecken mussten und dennoch nicht zerbrochen wurden.
In der Seitenkapelle
Diese Figur „Christus in der Rast“ wird nun in der kommenden Zeit der Corona-Pandemie in der linken Seitenkapelle der Gerolzhöfer Stadtpfarrkirche vor dem Pieta-Altar stehen. Eine Einladung an alle, sich mit ihren Sorgen in Ruhe vor diese Jesusfigur zu setzen und um Ruhe in den Stürmen des Lebens zu beten.
Diesen und weitere Texte von Pfarrer Stefan Mai gibt es zum Anhören und Weiterverschicken auch auf der Homepage der Pfarreiengemeinschaft unter www.pg-st-franziskus.de