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Ein Alltag voller Kontraste
Lena Schuster ist ein Sprachentalent und liebt die Ukraine. Nicht zuletzt durch ihre Initiative wurden zwei Flüchtlingsfamilien aus der Ostukraine in ihren Heimatort vermittelt, wo sich die 23-Jährige rührend um die sieben Neu-Untersteinbacher kümmert.
In Untersteinbach aufgenommen: Zwei Familien aus der Ostukraine leben derzeit in dem Ortsteil Rauhenebrachs. Die Familienväter helfen beim Umbau der Grundschule mit. Von links: Sergeij Tschebotarov, Bogdan Tschebotarov, Luba Tschebotarov, Lena Müller, Wolfgang Müller (Hausmeister der Schule), Bürgermeister Mathias Bäuerlein, Lena Nikonchuk, Sergeij Nikonchuk, Wersawija Tschebotarov, Albina Nikonchuk und Ella Nikonchuk.
Foto: Matthias Beck | In Untersteinbach aufgenommen: Zwei Familien aus der Ostukraine leben derzeit in dem Ortsteil Rauhenebrachs. Die Familienväter helfen beim Umbau der Grundschule mit.
Von unserem Mitarbeiter Matthias Beck
 |  aktualisiert: 15.07.2015 17:45 Uhr

Flüchtlinge sind als Thema in aller Munde. Und es sind nicht nur die tragischen Schicksale in Flüchtlingsbooten im Mittelmeer und der Bürgerkrieg in Syrien, die hierzulande den Menschen nahegehen. Auch der Konflikt in der Ost-Ukraine – zwischen russischen Separatisten und der ukrainischen Armee – lässt verzweifelte Menschen aus ihrer Heimat flüchten. So auch die beiden ukrainischen Familien Tschebotarov und Nikonchuk, die vor einigen Monaten nach Untersteinbach gekommen sind. Gewehrschüsse und Bombeneinschläge waren für sie zum unerträglichen Alltag geworden.

Und dass die sieben Ukrainer in der Gemeinde Rauhenebrach unterkamen, ist kein Zufall. Denn dem Landratsamt Haßberge fiel die Zuweisung der Flüchtlinge umso leichter, als die Untersteinbacher Studentin Lena Schuster ihre Hilfe anbot.

Jede Woche Deutschunterricht

Ihre Russischkenntnisse – und solche sind gerade in den ländlichen Gegenden Bayerns eher selten – qualifizieren sie nicht nur für die Rolle als Vermittlerin, sondern auch für die Unterstützung der beiden Familien beim täglichen Leben. Einmal pro Woche erteilt sie ihnen Deutschunterricht. Zudem hilft sie den Ukrainern bei der Integration.

Das Engagement der 23-Jährigen kommt nicht von ungefähr. Denn bereits zweimal bereiste sie die ukrainische Stadt Odessa. Ihr Engagement fußt auf ihrem Interesse für Sprachen. Bereits auf dem Gymnasium in Gaibach lernte sie Spanisch, Französisch, Englisch und Latein. Nach dem Abitur schloss sich eine Ausbildung als staatlich geprüfte Fremdsprachenkorrespondentin für Englisch und Spanisch an.

Russisch lernte sie im Zuge ihres Europastudiums, einer Mischung aus Wirtschaft und EU-Politik, an der Technischen Universität Chemnitz. Die Studienordnung schreibt das Erlernen einer osteuropäischen Sprache vor. Und da man Sprachen am besten lernt, indem man sie anwendet, verbrachte sie ein Semester in der sibirischen Stadt Tomsk an der Polytechnischen Universität.

Es schloss sich ein dreimonatiges, soziales Praktikum in Odessa an, da im Osten, im Süden und in Teilen des Zentrums der Ukraine russisch gesprochen werde, erläutert Lena Schuster. Auch die Straßenschilder seien auf Russisch. In Restaurants werde die russische Karte gereicht, und die Kinder wachsen mit beiden Sprachen auf.

Die Unterschiede zwischen Russisch und Ukrainisch erklärte sie so: „Wenn ich mit einem ukrainisch sprechenden Ukrainer reden würde, würde ich ungefähr die Hälfte verstehen. Aber man kommt eigentlich überall in der Ukraine mit Russisch klar.“

Lena Schusters Tante Angelika Beck verhalf ihr zum sozialen Praktikum durch ihre Kontakte zum Deutschen Zentrum St. Paul in Odessa. Die dort angegliederte evangelisch-lutherische Kirche engagiert sich auch in sozialen Fragen. Hierdurch lernte sie die Kontraste im Land kennen.

Zu ihren Aufgaben gehörten neben Verwaltungs- und Übersetzungstätigkeiten vor allem soziale Projekte. So half sie im deutschen Kindergarten mit, indem sie den Kindern spielerisch Deutsch beibrachte, Essen zubereitete oder die Betreuung übernahm.

Verglichen mit den Verhältnissen im Land, sei der private Kindergarten für sie das eine Extrem gewesen. Denn es waren in erster Linie die Kinder reicher Eltern, die ihren Nachwuchs dort betreuen ließen – für 200 Euro im Monat.

Kleines Gehalt, teueres Leben

Zum Vergleich: Das durchschnittliche Monatsgehalt in der Ukraine beträgt 200 Euro im Monat. Doch die Produkte sind deshalb nicht unbedingt günstiger als in Deutschland. Im Gegenteil: Die Spanne klafft nur marginal auseinander.

Laut der Studentin kosten eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Odessa circa 200 Euro im Monat, ein halber Laib Brot 65 Cent, eine Packung Käse 2,10 Euro, ein Liter Milch 50 Cent und eine 10er-Packung Eier 1,30 Euro – alles umgerechnet von der Währung Griwna in Euro.

Den Verhältnissen im Kindergarten standen ihre Erlebnisse mit den Obdachlosen konträr entgegen, berichtet sie. Angesichts der vielen armen Menschen gebe es kaum jemanden, der sich um diese kümmert. Die evangelische und katholische Kirche haben sich daher zusammengetan und bereiten einmal pro Woche warmes Essen zu, meistens Borscht. Lena Schuster half bei der Ausgabe der Speisen mit. Besonders blieb ihr die Freude der Obdachlosen angesichts der warmen Mahlzeit in Erinnerung.

Auch half sie dem Deutschen Zentrum bei der Unterstützung von Seniorinnen meist deutsch-russischer Herkunft. Beispielsweise füllte sie jeden Tag die Wasserkanister der mobil eingeschränkten „Pflegeomas“ an den überall in der Stadt liegenden Brunnen mit frischem Wasser auf. Denn Leitungswasser ist stark mit Keimen belastet.

Im Zuge dessen lernte sie Elena Sergewna kennen, die in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt. Sie half ihr beim Putzen und Aufräumen. Und die „Pflegeoma“ kochte ihr Tee und lehrte sie Russisch.

Ungewöhnlich erschien der Studentin, dass sich die Toilette in der Küche befand. Nur ein Vorhang verbarg die einen Meter vom Tisch entfernte Schüssel. Nur noch eine von vier Kochplatten funktionierte. Der Ofen war schon lange defekt. Eine niedrige Rente machte Sergewna Anschaffungen schwierig. Umso größer war die Freude, als die Studentin ihr einen Samtmantel ihrer verstorbenen Großmutter schenkte. Noch heute telefoniert Lena Schuster regelmäßig mit der betagten Dame.

Auch außerhalb des Praktikums machte Odessa Eindruck auf Lena Schuster. Die individuelle, künstlerische Gestaltung von meist privaten Cafés und Restaurants ließen Liebe zum Detail gerade in der farblichen Bemalung erkennen. Die reich verzierten Häuser der Innenstadt zeugen – im Gegensatz zu den Sowjetbauten in den Außenbezirken – von den sozialen Kontrasten. Überall spiele man Schach, berichtet die 23-Jährige von ihren alltäglichen Beobachtungen. Und für fünf Euro aufwärts bekommt man einen guten Platz in der prunkvollen Oper. Blaues Meer und weißer Strand am Schwarzen Meer wirken unberührt. Touristisch sei alles nicht so überfüllt.

Doch seit dem Ukraine-Konflikt kommen überhaupt keine Gäste mehr. Und auch von den Auseinandersetzungen bekam Lena Schuster einiges mit: Als sie vor einigen Monaten zum zweiten Mal privat nach Odessa reiste, patrouillierten am Flughafen überall Soldaten mit Kalaschnikows und Spürhunden. Sie erfuhr, dass an diesem Tag eine Bombe in einem russlandfreundlichen Parteibüro detoniert war.

Auch der Süden bleibe also nicht von dem Konflikt verschont, berichtet sie und kritisiert die ihrer Ansicht nach sehr oberflächliche Darstellung des Ostukraine-Konflikts in Westeuropa.

„Ukrainischen Abend“ veranstaltet

Die Erfahrungen mit den menschlichen Schicksalen vor Ort motivierten sie, sich in ihrer Heimat für Flüchtlinge einzusetzen. Daher veranstaltete sie einen „Ukrainischen Abend“ im Pfarrheim von Untersteinbach, zu dem rund 90 Gäste kamen.

Die beiden Familien Tschebotarov und Nikonchuk halfen bei der Organisation mit, bereiteten die Spezialitäten Borscht und Blinis zu und bewirteten die Besucher am Abend. Dagmar Schnös, die Gemeindereferentin des Dekanats Haßberge, und Bürgermeister Matthias Bäuerlein hießen die Familien willkommen.

Hierbei gab es auch die Gelegenheit, die ukrainischen Flüchtlinge kennenzulernen: Die Tschebotarovs wohnten in der Kleinstadt Krolewez, 30 Kilometer von der russischen Grenze im Nordosten entfernt. Sie hatten Geld, Arbeit und ein Haus. Mutter Luba war Postbeamtin in einer höheren Position. Vater Sergeij war Steinmetz. Angesichts des Aufgebots an Panzern an der Grenze entschieden sie sich zur Flucht. Da Lubas Vater Russlanddeutscher ist, kamen sie nach Deutschland.

Im Gespräch mit Lena Schuster als Übersetzerin erinnert sich Luba Tschebotarov, dass man sich zuhause nur noch unsicher und unwohl gefühlt habe. Die Zerstörung eines Lenin-Denkmals, die Detonation einer Rakete in einer etwa 20 Kilometer vom Wohnhaus entfernt gelegenen Fabrik oder Panik angesichts von Gerüchten, dass die Schule zerbombt worden wäre, in der sich ihre zwei Kinder befanden, bewogen sie zur Flucht.

Sie gingen zunächst nach Lemberg und warteten dort acht Stunden an der Grenze, da die Behörden angesichts des Ansturms von Ausreisewilligen überfordert gewesen seien. Nach zahlreichen Stationen und Aufnahmelagern erreichten sie nach etwa einem Monat Untersteinbach.

Ähnliches erlebte die Familie Nikonchuk aus Donezk. Mutter Lena war Marketingdirektorin in einer Werbeagentur, Vater Sergeij eine Art Allround-Handwerker. Er versichert, dass seine Familie einen sehr guten Lebensstandard genossen habe – bis zu den Ereignissen im Jahr 2014. Als schließlich täglich Bomben in der Umgebung detonierten, entschlossen sich die Nikonchuks zur Flucht.

Der letzte Bus

Und man hatte Glück. Denn „gerade so“ erwischte die Familie den letzten Bus, bevor die Flucht durch formelle Barrieren und ein entsprechendes Ausreiseformular erschwert wurde. Die Familie wusste dabei nicht, dass es sich um den letzten Bus nach Dnjepopetrowsk gehandelt hatte.

Nach einer Reihe von Stationen gelangten auch sie einen Monat nach der Flucht nach Untersteinbach. Beide Familien pflegen regelmäßigen Kontakt zu Freunden und Verwandten über das Internet.

Lena Schuster jedenfalls freute sich darüber, dass die ukrainischen Familien in Untersteinbach sind. Die Familienväter bringen sich freiwillig im Bauhof Rauhenebrachs mit ein. Beide haben einen Ein-Euro-Job gemäß den gesetzlich festgelegten Budgetierungen und helfen derzeit bei den Umbauarbeiten an der Grundschule mit.

Aber die Asylverfahren der beiden Familien laufen mit ungewissem Ausgang. Schuster hofft auf eine Anerkennung ihrer Schützlinge, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollen.

Ein Demonstration: Der Konflikt in der Ostukraine hat auch auf die südliche Stadt Odessa Auswirkungen.
Foto: Lena Schuster | Ein Demonstration: Der Konflikt in der Ostukraine hat auch auf die südliche Stadt Odessa Auswirkungen.
Lena Schuster während ihres Praktikums in Odessa: vor der Potemkinschen Treppe mit 192 Stufen, dem Wahrzeichen der Stadt.
Foto: Lena Schuster | Lena Schuster während ihres Praktikums in Odessa: vor der Potemkinschen Treppe mit 192 Stufen, dem Wahrzeichen der Stadt.
Ehrenamtliches Engagement: Die Studentin Lena Müller setzt sich für Flüchtlinge ein.
Foto: Matthias Beck | Ehrenamtliches Engagement: Die Studentin Lena Müller setzt sich für Flüchtlinge ein.
"Pflegeoma" Elena Sergewna.
Foto: Lena Schuster | "Pflegeoma" Elena Sergewna.
Kinder im deutschen Kindergarten von Odessa.
Foto: Lena Schuster | Kinder im deutschen Kindergarten von Odessa.
 
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