Der Test wird geschrieben, wenn auch etwas später als geplant. Sorya Lippert muss vorher nämlich noch Sapunto ins Krankenhaus fahren. Die 19-Jährige aus Äthiopien hat sich plötzlich vor Schmerzen gekrümmt – wie sich herausstellt, ist gerade ihre Fruchtblase geplatzt. Das Kind kommt ein paar Tage vor dem Termin, aber sonst ist alles in Ordnung, berichtet Sorya Lippert als sie wieder da ist.
„Das wird bestimmt ein paar Stunden dauern, es ist ja die erste Geburt. Bei meinem sechsten Kind war es in einer Stunde gelaufen“, sagt sie, und die Mütter an der langen Tafel im Interkulturellen Begegnungszentrum (IBF) in der Oberen Straße nicken wissend.
Nun aber zurück zur Arbeit: Die rund 30 Männer und Frauen sind jetzt bereit, ihren Deutschtest abzulegen, nachdem sie wissen, dass es Sapunto gutgeht. Die meisten von ihnen sind Asylbewerber und besuchen einen der Deutschkurse, die das IBF anbietet. Solange sie nicht anerkannt sind, haben sie keinerlei Anspruch auf Sprachförderung, und die Kurse an der Volkshochschule können sie sich nicht leisten – 40 Euro bekommt ein Erwachsener Taschengeld pro Monat. Beim gemeinnützigen Verein IBF sind die Kurse kostenlos, nur zehn Euro Pfand verlangt Lippert für das Lehrbuch.
Menschen aus dem Iran, aus Aserbaidschan, Äthiopien, Vietnam, Afghanistan tun hier seit ein paar Wochen oder Monaten die ersten Schritte in der Sprache des Landes, von dem sie sich ein Leben in Sicherheit erhoffen. Vorne im Raum hält Agnes Weidig für eine kleine Gruppe älterer Herrschaften einen Alphabetisierungskurs. Weidig hat Islamwissenschaft studiert und spricht Persisch und Arabisch. Seit April ist sie beim IBF angestellt, ihr Gehalt zahlt das Sozialministerium. Ministerin Christine Haderthauer will auch zu einer Art Starttermin vorbeischauen. Bis jetzt hat es aber noch nicht geklappt.
Sorya Lippert hatte in ihrem Kurs mit einer Fragerunde begonnen: Wie geht es dir heute? Aus welchem Land kommt du? Wo wohnst du hier? Wie alt bist du? Die Antworten kommen schon ziemlich gut – niemand, der aus einem völlig anderen Kulturkreis kommt, ist zu beneiden, wenn er Wörter wie „Zabelsteinstraße“ lernen muss. „Die Deutschen haben sooo lange Wörter“, stöhnt eine Frau und nennt ihr Lieblingsbeispiel: „Unterrichtsverpflichtungen“.
„Warum sind Sie in Deutschland“, fragt Lippert einen Journalisten aus Aserbaidschan. Warum-Fragen sind am schwierigsten, also behilft er sich – vorerst – mit Englisch: „There is a threat against me in my country.“ Gelegenheit also, das Wort „Drohung“ zu üben. Erst muss aber die Bedeutung erklärt werden. Theatralisch ballt Sorya Lippert die Fäuste, schiebt den Unterkiefer vor und brummt: „Nahid, heute Nacht komme ich, um dich zu holen.“ Alle lachen. Die Schüler wissen, dass ihre Lehrerin weiß, dass ihr Weg nach Deutschland keine Urlaubsreise war. Dass sie ihre Heimat, ihre Familien und ihren Besitz zurückgelassen haben. Das Wort „Drohung“ haben sie also schnell verstanden. Eine Schülerin konjugiert sich wacker durch die Verbformen. Lippert erinnert, dass das H bei „droht“ nicht gesprochen wird, wohl aber bei „drohen“ – „eine Silbe, zwei Silben“, mahnt sie, und klopft mit der Kreide an die Tafel. Die Schüler schreiben mit. Viele Hefte sind bunt von den Markerstiften, mit denen sie sich ihre eigenen Leitsysteme durch das Dickicht des Deutschen geschaffen haben.
Die Kurse sind auch eine Gelegenheit, aus der engen Gemeinschaftsunterkunft raus und unter Leute zu kommen. Es kommt vor, dass sich drei Familien eine Küche, ein Klo, ein Bad teilen, berichtet eine Frau. „Wir leben zu viert in einem Zimmer“, erzählt eine andere. Viele haben große Hilfsbereitschaft bei der Bevölkerung erfahren, nicht aber bei den Behörden. „Die ganze Welt sieht doch, was in unseren Heimatländern los ist“, sagt ein junger Computeringenieur aus dem Iran. Eine Studentin aus Äthiopien ergänzt: „Es war nicht unser Traum, nach Deutschland zu fliehen. Hier heißt es dann: Das ist doch nicht unser Problem.“
Am Anfang hat es im Vielvölkergemisch der Sprachkurse noch hin und wieder vor Aggressionen geknistert, erzählt Sorya Lippert. Mittlerweile ist die Stimmung gelöst. Herzlich sogar. Menschen aus drei Erdteilen lernen gemeinsam und helfen einander.
Und was treibt Sorya Lippert an, die als Tochter einer Deutschen und eines Pakistaners in England und Pakistan aufgewachsen ist? „Ich weiß einfach, wie bescheuert es ist, immer anders zu sein. Und ich weiß, wie sehr mir Bildung geholfen hat, meinen Platz in der Gesellschaft zu finden.“
Im Rahmen der Nacht der Kultur findet am heutigen Samstag, 19.30 Uhr, im IBF, Obere Straße, die „Nachtmusik im Land der Sufis“ statt, eine Lesung mit Gespräch mit dem Islamwissenschaftlicher Jürgen Wasim Frembgen.