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Schweinfurt
Die Zerstörung der Schweinfurter Familie Tittel
Ein Stück Schweinfurter Geschichte vor dem Vergessen bewahrt (von links): Rainer Koch vom Schweinfurter Bauhof, Lokalhistorikerin Elisabeth Böhrer, die Brüder Mark und Alex Tittel, Stadtarchivar Gregor Metzig sowie Sorya Lippert, als Zweite Bürgermeisterin.
Foto: Uwe Eichler | Ein Stück Schweinfurter Geschichte vor dem Vergessen bewahrt (von links): Rainer Koch vom Schweinfurter Bauhof, Lokalhistorikerin Elisabeth Böhrer, die Brüder Mark und Alex Tittel, Stadtarchivar Gregor Metzig sowie ...
Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:31 Uhr

"Auch Schweinfurt braucht Stolpersteine", sagt Sorya Lippert, als Zweite Bürgermeisterin, bei der Erinnerungsstunde vor dem Haus "Zur Wasserleitung 9". Mehr als 30 Besucher sind dabei, als Gedenksteine für Heinrich, Hilde, Klaus und Rolf Tittel verlegt werden. Klaus Tittel hat die Auslöschung seiner christlich-jüdischen Familie im "Dritten Reich" überlebt, als Vollwaise. Dessen Söhne Alex und Mark, die in den USA leben, haben das kleine Denkmal initiiert. Der fast 90 Jahre alte Vater konnte nicht mitreisen.

Lokalhistorikerin Elisabeth Böhrer, die ihn seit 2004 kennt, hat in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv recherchiert. Johanna Bonengel ist dabei, von der Initiative gegen das Vergessen. Als der Beschluss im Rat gefallen sei, sagt Lippert, für die zweite Verlegung von Stolpersteinen in der Stadt, da habe sie noch an eine "gute Erinnerungskultur" im Land geglaubt: "Da bin ich heute nicht mehr so sicher".

Gleichermaßen gefährlich

Antisemitismus, Islamophobie, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus seien gleichermaßen gefährlich, mahnt die Bürgermeisterin, gerade jetzt, nach dem "furchtbaren Massaker der Hamas". Viele muslimische Flüchtlinge hätten wenig Wissen, was der Holocaust in Deutschland wirklich war. Man müsse Toleranz, Vielfalt und Demokratie sichern, auch der Nationalsozialismus habe mit kleinen Verschiebungen im Koordinatensystem begonnen. "Ich danke Ihnen, dass Sie uns ein Stück Schweinfurter Geschichte wiedergebracht haben", sagt Stadtarchivar Gregor Metzig, zu Alex und Mark Tittel.

Großeltern, Onkel und Vater waren eine evangelisch geprägte Schweinfurter Vorzeigefamilie gewesen. Deren Zerstörung begann mit einem Lawinenunfall, im Tiroler Skiort Galtür. Am 28. Januar 1941 gab die "Führung und Gefolgschaft der Deutsche Gelatine-Fabriken Schweinfurt" per Annonce den Tod ihres Betriebsleiters Dr. Heinrich Tittel bekannt: "Herr Dr. Tittel verunglückte am 23. Januar auf einer Skitour in den Bergen, wo er Ausspannung und Erholung suchte." Die Begleiter überlebten, Tittel, Jahrgang 1897, starb – was womöglich mit einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg zusammenhing, aus seiner Zeit als Aufklärungspilot.

Der gebürtige Schweinfurter, ein Chemiker, hinterließ den zwei Jahre alten Rolf und den siebenjährigen Klaus sowie eine 33-jährige Ehefrau: Hilde Jaffé entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin. Seit 1933 hatte ihr Mann in leitender Stellung für die Fabrik gearbeitet. In der "Schnicko", wie sie die Schweinfurter nannten, wurde Gelatine hergestellt, die außer als Speisezusatz auch für photochemische Prozesse und beschlagfeste Gasmasken-Sichtscheiben diente.

Mit dem Tod des "arischen" Ehemanns entfiel nun, im Krieg, der Schutz für dessen Ehefrau. Als zwei Monate später der kleine Rolf an einer Mittelohrentzündung erkrankte, verweigerten ihm die Ärzte des Städtischen Krankenhauses die Behandlung, unter Verweis auf die jüdische Mutter: Das Kind starb am 10. April 1941, als Opfer des Rassenwahns.

Im Herbst begann die systematische Vernichtung der europäischen Juden. Auch in Schweinfurt zeichnete sich ein Beginn der Deportationen ab. Hilde Tittel musste zudem damit rechnen, das Erziehungsrecht für Klaus zu verlieren. Dessen (Un-)Rechtsstatus als "Mischling ersten Grades" war in der Naziideologie nicht eindeutig geklärt.

Am 3. Oktober 1941 beendete die verzweifelte Witwe ihr Leben im Wohnhaus, durch das Gas ihres Ofens. Der Sohn kam von der Schule nach Hause und fand seine leblose Mutter. In einem Kinderbild hat er das Trauma festgehalten: den Wärmeboiler, den Ofen, einen leeren Stuhl in der Küche. Für das "halbjüdische" Waisenkind begann eine Odyssee.

Klaus Tittel wurde in Kinderheimen und Pflegefamilien untergebracht, überlebte die Bombardierung eines Zugs. Nach Kriegsende fand er Zuflucht bei entfernten Verwandten in der Manggasse: Anita Menke, deren Nachkommin, ist bei der Stolpersteinverlegung mit dabei, ebenso Karl Kämpf, ein Schulkamerad. 1948 kam Klaus zu seiner emigrierten Tante Hanni Jaffé nach England. Seine jüdische Großmutter Alice, eine Dachauerin, war 1944 in Auschwitz ermordet worden. Der Oxford-Absolvent wurde Professor der renommierten Rice University in Houston, Texas. Heute gilt er als Pionier der Laserforschung.

Hilfe wurde verboten

1967 kehrte er mit Ehefrau Maria auf Besuch nach Schweinfurt zurück. Sohn Mark musste ins Krankenhaus, ein Arzt soll den Namen "Tittel" wiedererkannt und sich für die seinerzeit verweigerte Behandlung entschuldigt haben. Man habe Rolf helfen wollen, dies sei aber verboten worden.

Benedikt Dorsch und Rainer Koch verlegen die Steine, seitens des Bauhofs. Blumen werden niedergelegt. Die Bamberger Sängerin Laura Mann sorgt für den würdigen musikalischen Rahmen. "Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück" stammt aus dem Jahr 1932. Sichtlich bewegt bedankt sich Alex Tittel: "Unser Vater hatte in Schweinfurt sowohl die schrecklichsten als auch die schönsten Momente in seinem Leben."

Sichtlich ergriffen von der Verlegung der Stolpersteine: Alex Tittel ist mit Bruder Mark eigens aus Houston angereist.
Foto: Uwe Eichler | Sichtlich ergriffen von der Verlegung der Stolpersteine: Alex Tittel ist mit Bruder Mark eigens aus Houston angereist.
Opfer des Rassenwahns: Im Wohnhaus mit der heutigen Adresse 'Zur Wasserleitung 9' lebte 1941 die Familie Tittel.
Foto: Uwe Eichler | Opfer des Rassenwahns: Im Wohnhaus mit der heutigen Adresse "Zur Wasserleitung 9" lebte 1941 die Familie Tittel.
Erinnerung an die Toten und Überlebenden: Am Teilberg liegen nun vier Stolpersteine.
Foto: Uwe Eichler | Erinnerung an die Toten und Überlebenden: Am Teilberg liegen nun vier Stolpersteine.
Rund 30 Besucher nahmen an der Gedenkfeier und der Verlegung der Stolpersteine teil.
Foto: Uwe Eichler | Rund 30 Besucher nahmen an der Gedenkfeier und der Verlegung der Stolpersteine teil.
Ein Bild aus besseren Tagen: Heinrich Tittel beim Spielen mit Sohn Klaus.
Foto: Alex Tittel (Archivfoto) | Ein Bild aus besseren Tagen: Heinrich Tittel beim Spielen mit Sohn Klaus.
War durch ihren Ehemann eine Zeitlang geschützt: Hilde Tittel, geborene Jaffé, mit Sohn Rolf.
Foto: Alex Tittel (Archivfoto) | War durch ihren Ehemann eine Zeitlang geschützt: Hilde Tittel, geborene Jaffé, mit Sohn Rolf.
Professor Klaus Tittel, in den USA bekannt als Frank Klaus Tittel, mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, der selbst einen jüdischen Großvater hatte. Das Foto soll in den 90er Jahren an der Rice University entstanden sein.
Foto: Alex Tittel (Archivfoto) | Professor Klaus Tittel, in den USA bekannt als Frank Klaus Tittel, mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, der selbst einen jüdischen Großvater hatte. Das Foto soll in den 90er Jahren an der Rice University entstanden sein.
 
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