Wer eine Freizeit organisiert, will Abwechslung anbieten. Für die Offene Behinderten-Arbeit (OBA) der Diakonie Schweinfurt hatten Ingrid Licha und Angelika Scheidig für eine solche Freizeit die Idee, Jugendliche mit und ohne Behinderung „in einer spielerischen Form Improvisationstheater auszuprobieren“. 1999 war das, als über „Inklusion noch gar nicht geredet wurde“, sagt Scheidig. „Traumschiff Enterprise“, eine lustige Kreuzfahrt, war damals das Ergebnis. Das Stück wurde in der Kulturwerkstatt Disharmonie aufgeführt. Die Resonanz des Publikums und die Gefühle vor allem der Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung waren so positiv und wohltuend, dass die OBA das Theaterspielen fortan ins Jahresprogramm aufnahm.
Ein festes Ensemble
Dass sich aus den Kursen im Frühjahr und Herbst einmal ein festes Ensemble entwickeln sollte, hat keiner geahnt und das ging so: Jeder Kurs endete mit einer Aufführung und immer meldeten sich die gleichen Personen erneut an. Folge war die Gründung von „HutAb!“. Die Gruppe mit dem vielsagenden Namen ist heute längst etabliert, sehr beliebt und gut gebucht. Zu dem Kulturfrühling in Schwebheim und Werneck gehören OBA-Akteure einfach dazu. Auch haben sie regelmäßige Auftritte in der Disharmonie und im Jugendtreff kom,ma.
Die Säle sind immer voll, die Stücke kommen gut an und vor allem für die Menschen mit Behinderung ist das Bühnenerlebnis etwas ganz Großes in ihrem barrierereichen Leben. „Es ist fantastisch zu sehen, mit welchem Stolz sie nach den Aufführungen den Autogrammwünschen nachkommen“, sagt Scheidig, „wie sie mit Besuchern nachher über das Stück diskutieren“, sagt Licha.
Ehrenamtliche Leitung
Ingrid Licha ist Erzieherin und schon viele Jahre bei der OBA angestellt. Die Theatergruppe ist nur ein Bereich aus dem vielfältigen Freizeit- und Bildungsprogramm der OBA in der Verantwortung von Licha. Mit Scheidig bildet sie ein starkes Team, dass die Geschichte von „HutAb!“ mit viel Herzblut prägt. Die Theatergruppe leiten beide ehrenamtlich.
Angelika Scheidig ist eigentlich gelernte Heilpädagogin, hat sich aber in Theaterpädagogik fortgebildet, früh der Bühne verschrieben und deshalb „immer wieder selbst Theater gespielt“. Aktuell im rotzfrechen Kabarett-Duo als Inge an der Seite von Rita alias Bettina Hümmer-Dünninger.
Scheidig war auch viele Jahre im Würzburger Theater Augenblick angestellt. Bei „Hut ab!“ führt sie die Regie. Geduld, Einfühlungsvermögen und Ausdauer ist nötig, ebenso das Vertrauen auf spielerische Entstehungsprozesse. „Wenn wir auf die Uhr schauen müssten, könnten wir das nicht machen“, sagt Scheidig, die übrigens vor Jahren mit Licha Theater gespielt hat – in der legendären Frauengruppe „Na und“ der Schweinfurter SPD.
Der OBA-Theatergruppe gehören derzeit neun Akteure an, darunter Sarah, die FH-Praktikantin. „Theaterspielen ist prädestiniert für alle Menschen, da werden versteckte Fähigkeiten entdeckt, das Selbstwertgefühl gestärkt und zwischenmenschliche Unsicherheiten abgebaut“, sagt Scheidig.
Es gibt keine fertigen Texte, „Hut ab!“ ist Improvisationstheater pur! Es wird ausprobiert, getanzt, gesungen und vor allem – gelacht. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler können ihre Ideen und Stärken einbringen und sie zeigen. Wer welche Rolle spielt, hängt unter anderem von den individuellen Vorlieben und Wünschen ab. Der eine ist lern-, der zweite sprech- der dritte geistig behindert. Egal.
In den Jahren entstanden viele selbst entwickelte Stücke: „Und die Heidi gibt es doch“, „Hotel Fortuna“, „Schlechte Zeiten-Gute Zeiten“, „Tagtraum“. Das Gründungsstück ist zum 20. Geburtstag im Jahr 2019 als „Traumschiff Enterprise 2“ neu aufgelegt worden. Katrin und Frank waren 1999 schon dabei und sie werden die Neuauflage beim Kulturfrühling in Essleben Zeit ihres Lebens nicht mehr vergessen: Die heute um die 40-Jährigen wurden nämlich mitten im Stück für ihre Ausdauer geehrt. So was gibt?s halt nur bei „Hut ab!“.
Vollbremsung durch Corona
Dann Corona. Vollbremsung. „Zum Leidwesen der Schauspieler“, sagt Licha, die allein am immer pünktlichen Erscheinen zu den Proben erkennt, welche Bedeutung das Theater für alle hat. Das letzte Stück vor Publikum war Ende Januar 2020 möglich.
Fürs Theater-Festival Zamm in Bayreuth hatte man bereits geprobt, dann kam die Pandemie. Bayreuth hielt an der Einladung fest, Auftritt ist jetzt 2022 mit „Lecker, schlecker ups“, eine Geschichte über Naschkatzen, die das schlechte Gewissen und der Bauchansatz ins Fitnessstudio treibt, wo sich aber zeigt, dass auch Trainer Süßem nicht abgeneigt sind.
Erste Proben mit Maske und Abstand konnten kürzlich wieder stattfinden. „Ich habe Euch so vermisst“, war die erste Reaktion von Sabrina und Vicky. Auch Christine hält mit ihrer Freude, wieder auf den Brettern zu stehen, nicht hinterm Berg. Für Paul haben sich neue Möglichkeiten über die Theater- Whatsapp-Gruppe ergeben. Über diese neue Art des sich Treffens werden Gedichte und Musikbeiträge verschickt, somit Mut und gute Laune verbreitet.
„Hut ab!“ setzt mit seinen öffentlichen Auftritten – kein Eintrittsgeld, aber die Bitte um Spenden – ein Zeichen für mehr Selbstbestimmung, für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ja, für Inklusion. Die Schauspielerinnen und Schauspieler erfahren, dass sie ernst genommen werden, sagt Scheidig.
Und Licha weiß, dass nicht die Defizite, sondern die jeweilige Fähigkeit im Vordergrund steht. „Es kann jeder was“, sagen die beiden Macherinnen. Lampenfieber? Klar, haben alle, auch Scheidig und Licha, aber nur dann, wenn der roten Faden vor lauter Improvisation verloren zu gehen droht. Ging aber bisher immer gut. Wer die Theatergruppe der OBA noch nicht gesehen hat, sollte das nachholen, „Hut ab!“ lohnt sich.