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GEROLZHOFEN
Die Rückkehr
Der Französin wurde an ihrem Lebensabend ein großer Wunsch erfüllt. Nach 70 Jahren ist sie noch einmal nach Gerolzhofen zurückgekehrt.
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Von unserem Redaktionsmitglied Klaus Vogt
 |  aktualisiert: 19.10.2021 15:14 Uhr

Marguerite Pelletier ist eine zierliche Person. Immer wieder hält sie mit ihrer linken Hand den roten Wollschal vors Gesicht, denn der nasskalte Herbstwind des Steigerwaldvorlandes bläst ordentlich um die Ecken. Leicht nach vorne gebeugt und auf ihren schwarzen Gehstock gestützt, steht sie in der Pestalozzistraße in Gerolzhofen. Ihre wachen Augen schauen gebannt auf das lang gestreckte Gebäude, in dem heute mehrere Klassen der Ludwig-Derleth-Realschule ausgelagert sind und die Volkshochschule am Abend Kurse abhält. Lange schaut Marguerite Pelletier auf das große Haus, regungslos. Man spürt: Die Gedanken der alten Dame gehen zurück in eine andere Zeit. Eine Zeit, als das Gebäude noch ein Bestandteil des Gerolzhöfer Lagers des Reichsarbeitsdienstes (RAD) war. Und als Marguerite Pelletier als 17-jähriges Mädchen hier mehrere Monate lang untergebracht war.

Knapp 70 Jahre ist es inzwischen her, dass die junge Marguerite ihren Einberufungsbefehl zum Reichsarbeitsdienst nach Gerolzhofen erhielt. Von April 1943 bis Oktober 1943 war sie in der Stadt und in der näheren Umgebung im Arbeitseinsatz gewesen, ehe es ins mittelfränkische Oberdachstetten in eine Munitionsfabrik weiterging. Und nun, an ihrem Lebensabend, war es der große Wunsch der Französin gewesen, noch einmal zurückzukehren an den Steigerwald, um nach den Spuren ihrer Erinnerungen zu suchen. Ihre Tochter Sonja Pelletier-Gautier und ihr Enkel Damien Gautier organisierten die Reise nach Gerolzhofen, eine emotionale Rückkehr in ihre Jugend.

Der Wohnort Marguerites war eine kleine Gemeinde im Elsaß in der Nähe von Colmar, wo sie 1924 das Licht der Welt erblickte. Mit dem Abschluss des Frankreichfeldzuges 1940 hatte die Wehrmacht das Elsass besetzt und es wieder der reichsdeutschen Zivilverwaltung unterstellt. Die dort lebenden Menschen wurden fortan als Deutsche angesehen – mit der Folge, dass Marguerite, die damals noch ihren Mädchennamen Heyer hatte, und weitere junge Frauen aus ihrem elsässischen Dorf zum RAD gezogen wurden.

Eine erste Überraschung

70 Jahre später sitzt Marguerite Pelletier nun im Gastraum des Gasthofes „Tor zum Steigerwald“, wo die dreiköpfige Familiendelegation aus Frankreich zwei Übernachtungen gebucht hat. Auf Vermittlung ihrer Tochter sind die beiden Gerolzhöfer Museumsleiter Klaus Vogt und Bertram Schulz gekommen, um der betagten Dame die Überbleibsel des RAD-Lagers zu zeigen. Ihre erste Überraschung hat Madame Pelletier da bereits hinter sich. Denn als sie nach der langen Fahrt vor dem Gasthaus aus dem Auto ihrer Tochter ausstieg, war ihr sofort klar: Dieses Haus kenne ich.

Das sind die Zufälle, die das Leben so spielt. Denn genau in der Gaststätte, die ihre Tochter Sonja für die Übernachtungen gebucht hat, hat Marguerite früher als RAD-Kraft gearbeitet. Und als die Gastwirtin Ruth Döpfner-Leikam ein altes Schwarzweiß-Foto bringt, das sonst im Gastraum an der Wand hängt und auf dem noch die Vorgänger-Wirtschaft des Fritz Förster zu sehen ist, sind die letzten Zweifel beseitigt. „Ja, ich habe hier einen Monat lang in der Wirtschaft und in der Metzgerei geholfen“, erinnert sich Marguerite Pelletier. Dort, wo sich heutzutage der Frühstücksraum beziehungsweise das Nebenzimmer der Gaststätte befindet, war früher die Metzgerei der Familie Förster. „Ich erinnere mich noch an einen Metzgerjungen, der hat mir ab und zu heimlich eine Wurst zugeschoben.“

Die Konversation mit der alten Dame gestaltet sich zunächst etwas schwierig. Man merkt, dass sie sich nicht recht traut, Deutsch zu sprechen. Ihre Tochter, die in Frankreich als Geschichtslehrerin arbeitet, spricht hingegen gut deutsch und fungiert als Dolmetscherin. „Nach den schlimmen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs haben die Elsässer nicht mehr deutsch gesprochen“, erklärt die Tochter. Auch ihre Mutter nicht. Aus Prinzip. Seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch dann passiert es: Mit den Erinnerungen an die Gerolzhöfer Zeit kommt bei Marguerite auch die verschüttete deutsche Sprache wieder zum Vorschein. Erst bruchstückhaft, in Schlagworten. Dann bildet sie kurze Sätze und am Ende des Besuchstages spricht die betagte Frau ein so gutes Deutsch, dass die beiden Museumsleiter nicht mehr die Übersetzungshilfe von Tochter Sonja benötigen.

Fotos für das Stadtarchiv

Die Gäste aus Frankreich haben zahlreiche Fotos aus der RAD-Zeit mitgebracht. Viele Gruppenfotos aus dem Lagerleben, lachende Frauen, die sich zu Erinnerungsfotos zusammenstellen. Ein Schatz, der im Stadtarchiv eingelagert wird. Sogar ein Schnappschuss von Marguerite Pelletier mit zwei Freundinnen aus dem alten Gerolzhöfer Schwimmbad ist mit dabei, im Hintergrund sich noch die Holzbarracken an der Dingolshäuser Straße zu sehen, die einst als Umkleiden dienten.

Da trifft es sich gut, dass derzeit in der Rüstkammer des Altes Rathauses die Ausstellung mit historischen Fotografien läuft. Mit dem Auto geht es zu Beginn der Exkursion zum Marktplatz. Nein, hier kennt sie sich nicht aus, meint die alte Französin. Kein Wunder, denn es sei damals verboten gewesen, in die Innenstadt zu gehen, erinnert sie sich. Auch ein Gottesdienstbesuch war damals nicht möglich. Meist habe man nach der Arbeit seine Freizeit im Lager verbracht. Und wenn man doch mal das RAD-Lager verließ, dann nur gemeinsam, in sauberen Viererreihen. „Wir sind ab und zu mal ins Kino gegangen.“ Dort, im großen Fachwerkhaus am Marktplatz, wo früher die Central-Lichtspiele waren? „Nein, hier waren wir nicht. Das Kino war woanders.“ Die beiden Museumsleiter können leider nicht weiterhelfen. Denn früher gab es Filmvorführungen in gleich mehreren Sälen der Stadt, im „Wilden Mann“ bei Hans Härterich ab 1924, in den „Kammerlichtspielen“ im Kaiserhof schon ab dem Jhr 1919 und im Tröstersaal ab 1924.

In der Fotoausstellung in der Rüstkammer geht Marguerite Pelletier zielstrebig auf die alten Fotos vom Freibad zu. „Ja, so war es!“ Sie deutet auf einen großen DIN A3-Fotoabzug, auf dem man gut das Schwimmerbecken und die Umkleiden erkennen kann. Vielleicht sei sie gerade im Bad gewesen, als der Fotograf damals das Bild machte, schmunzelt sie und fängt an, das Bild systematisch abzusuchen. Sie kann sich aber nicht finden. „Wahrscheinlich war ich grad im Wasser...“, lacht sie.

Vom Marktplatz aus geht's zur nächsten Station der kleinen Stadtrundfahrt. Nach ihrem einmonatigen Arbeitseinsatz in der Gastwirtschaft Förster war Marguerite Pelletier zur Feldarbeit bei der heimischen Landwirtschaft abgestellt worden. „Bei einem Bauernhof, wo das Wohnhaus einen Turm hat“, sagt die alte Dame. Die Museumsleiter grübeln. „Die Straße hieß Entenstraße,“ ergänzt Marguerite Pelletier und zeigt einmal mehr, welch unglaubliche Details sie sich auch nach 70 Jahren noch gemerkt hat. Aha, also die Entengasse. Hießen die Bauern vielleicht Böhnlein? Unten am Eck zur Allee? „Nein, die Familie hieß Dusel“, schiebt Marguerite Pelletier immer mehr Details nach. Jetzt ist der Fall klar. Marguerite Pelletier meint den ehemaligen Bauernhof Dusel, rechts neben der unteren Einfahrt zur Entengasse.

Die junge Marguerite in der RAD-Ausgehuniform.
| Die junge Marguerite in der RAD-Ausgehuniform.

Inzwischen wohnen dort Heinrich und Klara Kümmel und die Familie von Tochter Angelika Neumann. Sie haben das Dusel'sche Grundstück mit dem Nachbargrundstück verschmolzen. Heinrich Kümmel öffnet freundlicherweise sein Hoftor und lässt die Gäste aus Frankreich herein. Marguerite Pelletier muss sich erst orientieren. Das alte Wohnhaus mit dem integrierten Stadtmauerturm vor der städtischen Waage erkennt sie sofort. Aber früher sei alles hier im Hof viel enger gewesen, meint sie. „Ja, das stimmt“, bestätigt Heinrich Kümmel. Er habe nach dem Kauf des Anwesens die alten Schweineställe und die trennende Grundstücksmauern abgebrochen. Auch die Hofeinfahrt wurde umgestaltet.

„Früher war der Hof von Dusels ganz schmal“, sagt Heinrich Kümmel. Marguerite Pelletier nickt und lächelt still. „Mama hat immer von dem Haus mit dem schönen Turm geschwärmt“, erzählt ihre Tochter Sonja. Man spürt, dass es auch der Tochter wichtig war, dies einmal mit eigenen Augen sehen können.

Schritt für Schritt

Dann geht es weiter zur letzten Station der Besichtigung: zum Überbleibsel des RAD-Lagers in der Pestalozzistraße. An der Einfahrt zum heutigen Bilinweg, dort, wo sich früher das Eingangstor zwischen den beiden großen RAD-Gebäuden befand, bleibt Marguerite Pelletier stehen. Sie saugt die Situation in sich auf, während Tochter und Enkel wieder die Fotoapparate zücken. Im linken, auch heute noch stehenden Bau habe sich früher unter anderem die Küche befunden. Sie zeigt auf die entsprechenden Fenster. Und im ersten Stock, im hinteren Bereich, habe der Lageroffizier gewohnt. Sie selbst sei damals mit sechs anderen jungen Frauen aus dem Elsaß im rechten Bau untergebracht gewesen. Heute stehen dort Mehrfamilienhäuser.

Das neue RAD-Lager in einer Aufnahme aus dem Jahr 1935.
| Das neue RAD-Lager in einer Aufnahme aus dem Jahr 1935.

Langsam geht Marguerite Pelletier Schritt für Schritt in den Bilinweg hinein – Schritt für Schritt in den Bereich, der früher der große Lagerplatz war. Geschichte wird spürbar. „In der Mitte stand der Fahnenmast“, beschreibt sie. Dort wurde jeden Tag in einer Zeremonie die Hakenkreuzfahne gehisst und am Abend wieder eingeholt. „Runter ging sie besser als nauf“, sagt Marguerite vielsagend. Ihre Augen blitzen.

Und dann beginnt sie zu erzählen. Von den Baracken, die an der Ostseite des Lagers standen. Und von den Dampflokomotiven, die ganz nahe am Lager vorbeifuhren. Und von den beiden Führerinnen des Lagers, die zwar „fanatisch“ dem NS-Gedankengut nachgehangen, aber trotzdem „gut und gerecht“ gewesen seien. Die eine Leiterin habe „Frau Herdramm“, die andere „Frau Böhme“ geheißen, weiß Marguerite Pelletier noch. „Arbeitsmaiden hat man damals zu uns gesagt“, berichtet sie. Weiße Bluse, kakifarbener Rock, rotes Kopftuch, so haben die RAD-Frauen ausgesehen.

Der Wind weht unangenehm, es beginnt wieder zu regnen. Marguerite Pelletier steigt ins Auto ihrer Tochter mit dem gelben Nummernschild. Durch die beschlagene Seitenscheibe schweift ihr Blick noch einmal über das lang gezogene VHS-Gebäude. Nach 70 Jahre war sie zurückgekehrt zu einer Stätte ihrer Jugend. Und sie lächelt wieder.

 
 
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  • J. F.
    Das ist ein interessanter Bericht, der einen Artikel wert ist: Geschichte lebt durch Personen; hier wird sie greifbar.
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