Der Zufall ist nicht selten ein wichtiger Gehilfe des Forschers. Das gilt für Naturwissenschaftler genau so wie für Geisteswissenschaftler. Der aus Gerolzhofen stammende Germanist Professor Dr. Rudolf Kilian Weigand hatte diesen Gehilfen.
An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ist Weigand Direktor der Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters. In dieser Eigenschaft beschäftigt er sich zurzeit intensiv mit der Rolle der Predigt als dem herausragenden Medium des Mittelalters. Er und seine Mitarbeiter untersuchen unter anderem auch die Texte des Dominikanerpredigers Johannes Tauler, von dem es nur wenige Lebensdaten gibt. Sicher ist aber, dass er 1361 gestorben ist.
Begegnung in Breslau
Eine der Handschriften, durch die Tauler-Predigten und auch solche des ebenfalls dominikanischen Theologen und Philosophen Meister Eckhart (1260 bis 1328) der Nachwelt erhalten geblieben sind, stammt aus dem Katharinenkloster in Nürnberg. Sie liegt im heute polnischen Breslau und ist auf sonderbaren Wegen von Nürnberg über Regensburg ins einstige Schlesien gekommen.
Hier kommt nun der Zufall ins Spiel. Rudolf Weigand stieß in dieser Breslauer Handschrift Cod. 21 aus den 1460er-Jahren mit Predigten berühmter Theologen auf etwas, das er gar nicht suchte, nämlich auf drei Texte eines viel weniger bekannten Heinrich Köczler, „Priester aus Gerolzhofen, Würzburger Bistums, Cappelan des Bischofs Anton von Bamberg“. Da traf also mitten in Polen ein Gerolzhöfer der Neuzeit unvermittelt auf einen Gerolzhöfer des Spätmittelalters.
Jetzt ging der Recherche erst einmal ein Stück weit weg von Tauler hin zu Köczler. Rudolf Weigand identifizierte mit seinen Mitarbeitern aus anderen Handschriften noch sieben weitere Texte Köczlers. Einer davon war keine Predigt, sondern ein Sendbrief zum Neujahrsfest für eine „Bruderschaft vom Berg“. Köczler, bisher nur als Abschreiber von Texten bekannt, entpuppte sich nun auch als eigenständiger Verfasser. Sein Neujahrsbrief enthält eine Auslegung der Weihnachtsgeschichte bis hin zu apokalyptischen Elementen.
Geistliche Erbauungsschrift
„Ein solcher Text steht der Gattung der Predigt nahe, ist allerdings umfänglicher als eine normale Predigt“, berichtet Rudolf Weigand. Sie sei als geistliche Erbauungsschrift für die Bruderschaftsversammlung zu werten. Im Zuge seiner Forschung stieß er auch darauf, dass Heinrich Köczler der Gründer dieser Bruderschaft vom Berg in Bamberg war, vermutlich in Bamberg. Der Gerolzhöfer „Cappelan“ wird nun Gegenstand einer Dissertation einer Eichstätter Doktorandin, die Weigand als Doktorvater betreuen wird.
Zurück zu Professor Weigands Forschungsprojekt über die Predigt als Massenmedium des Mittelalters und damit zurück zu Johannes Tauler. Seine Predigten sind die mit am besten überlieferten. Sie sind theologisch und philosophisch hochbedeutsam, weil sie der Schule Meister Eckharts angehören. Mit seinen teils auf Deutsch, teils auf Lateinisch verfassten Werken wendet sich Eckhart ausdrücklich auch an die „ungelehrten Leute“. Dieser Eckhart von Hochheim hält nichts von der zeitgenössischen (scholastisch geprägten) Vorstellung, dass die Wahrheit nur den theologisch gebildeten Lateinkundigen zugänglich und vor dem einfachen Volk zu verbergen sei.
Das gefiel Luther
Leute wie Meister Eckhart und Johannes Tauler mussten Martin Luther gefallen. Der erst im vergangenen Jahr gefeierte Reformator hat Taulers Predigten intensiv durchgearbeitet und mit vielen Randbemerkungen versehen. „Luther war regelrecht begeistert und hat Tauler für einen der wichtigsten aller deutschen Theologen gehalten“, erklärt Rudolf Weigand. Zu sehen sei das auch an der von Luther herausgegebenen „Theologia deutsch“, die Tauler immer wieder rezipiert.
Überzeugte Schüler Taulers haben die Predigten des Dominikaners früh gesammelt und in Handschriften zusammengestellt. So sind 84 deutsche Predigten Taulers erhalten. Von den über 300 mittelalterlichen Handschriften, acht bis zehn aus Taulers Lebzeiten, enthält allerdings keine das komplette Lebenswerk. Erst mit dem Buchdruck und nachdem sie 1543 ins Lateinische übersetzt worden war, verbreitete sich Taulers Lehre explosionsartig.
Zuvor, also vor der Erfindung des Buchdrucks, war nicht das handbeschriebene Blatt, sondern die mündlich vorgetragene Predigt das Massenmedium Nummer eins. „Die Zuhörerschaft ist die mediale Gemeinschaft“, erklärt Rudolf Weigand. Und die war groß, praktisch gesellschaftsumfassend, größer noch als die heutigen Sozialen Medien, die längst nicht alle erreichen. Denn damals mussten es die Menschen mit der Einhaltung der Pflicht zum Besuch des Gottesdienstes noch genauer halten als heute.
Neuausgabe in Arbeit
Zusammen mit Professor Volker Leppin, der den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen innehat, will Rudolf Weigand die Tauler-Predigten neu herausgeben. Leppin ist ein ausgewiesener Luther-Experte und war deutschlandweit wissenschaftlicher Koordinator für das Luther-Jahr 2017.
Das Problem bei der Edition ist, dass die Tauler-Predigten nicht im Original vorhanden sind, sondern nur als das, was aufgeschrieben wurde und nach der Erfindung des Buchdrucks als Basler Tauler-Druck von 1520/21 vorliegt.
Diese Tauler-Sammlung besteht aus drei Teilen. Einmal aus 84 Predigten, die Tauler zugeschrieben werden. Darunter sind allerdings vier, die von Meister Eckhart stammen, die Luther aber als Tauler-Predigten gelesen hat.
Dazu kommen 40 weitere, bei denen Tauler als Predigtautor nicht sicher ist, wo der Sprachduktus aber nach Tauler klingt. Die Ausgabe enthält drittens 40 weitere Predigten von Meister Eckhart.
Gegen gängige Einschätzung
Rudolf Weigand und Volker Leppin teilen nicht die über lange Zeit gängige Einschätzung, Eckhart und Tauler seien Mystiker. „Beide suchen nicht das mystische Erlebnis“, sagt Weigand. Er meint damit die religiöse Haltung, durch die durch Askese und Versenkung schon zu Lebzeiten eine Einheit mit Gott zustande kommen kann (unio mystica).
Im Predigtwerk Taulers weist Weigand eine Systematik, einen inneren Zusammenhang anhand von Hinweisen wie dem häufig verwendeten Wort „gestern“ nach. Das bedeutet, dass Tauler immer wieder die Thematik vorangegangener Predigten aufgriff.
Nicht nur an den Inhalten, sondern auch an der Wirkungsgeschichte Taulers will Weigand die eminente Bedeutung des Predigers für die deutsche Geistesgeschichte belegen. Seine Wirkung hat sich – anders als bei den anderen großen mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart und Heinrich Seuse (1295 oder 1297 bis 1366) – bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten.
Die beiden Wissenschaftler wollen für ihre Neuausgabe alle Predigten Taulers aus dem klassischen Mittelhochdeutschen ins normale, verständliche Neuhochdeutsch übersetzen. Erst wenn das alles fertig ist, soll das Werk als gedruckter Band erscheinen.
Arbeit bis ins Rentenalter
Mit dem Thema Johannes Tauler ist die Forschungsgruppe seit Februar 2018 beschäftigt. Das Projekt ist auf sechs Jahre angelegt. Für die ersten drei Jahre sind bereits Forschungsgelder von 730 000 Euro bewilligt. Da es wenig sinnvoll erscheint, wenn der heute 63-jährige Rudolf Weigand nach diesen drei Jahren aussteigen würde, wird er wohl bis weit über das normale Ruhestandsalter hinaus mit der Predigt des Mittelalters als Massenmedium beschäftigt bleiben.