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Geldersheim
Die Pracht der Tracht: Statussymbole aus Samt und Seide
Tracht und Tradition – Teil 1: Mode war einst mehr als nur Kleidung, nämlich Ausdruck für Lebensgefühl und Identität. Ein Besuch der Trachtensammlung Geldersheim. 
In solchen säurefrei gebleichten Kartons werden die empfindlichen und wertvollen Stücke aufbewahrt. Die hat sich Oliver Brust extra aus München kommen lassen.
Foto: Helmut Glauch | In solchen säurefrei gebleichten Kartons werden die empfindlichen und wertvollen Stücke aufbewahrt. Die hat sich Oliver Brust extra aus München kommen lassen.
Helmut Glauch
Helmut Glauch
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:59 Uhr

Gäbe es einen Duft, den man Brauchtum und Tradition zuordnen kann, dann wäre es wohl der, den edle alte Stoffe verströmen, die mitunter vor weit mehr als 100 Jahren zu hochwertigen Trachten verarbeitet wurden. Wer das ehemalige Lagerhaus der Geldersheimer Raiffeisenbank betritt, dem steigen sofort die Duftnoten von Samt, Seide, Wolle und Textilien mit kunstvollen Stickereien angenehm in die Nase, noch bevor er überhaupt irgendein Kleidungsstück gesehen hat. Wo vor Jahrzehnten noch Futtermittel lagerten, ist heute in geräumigen Schränken die wohl umfangreichste Sammlung regionaler Trachten in Unterfranken zu finden.

Wie viele es sind, darüber hat Oliver Brust, der hier buchstäblich jede Schürze, jede "Hulla" (Kopftuch) und jeden "Körres" (Jäckchen) persönlich kennt, genau Buch geführt. 3397 steht in Handschrift in einem Schulheft. Es ist schon das fünfte Heft dieser Art. Seit 1989, damals gerade 17 Jahre jung, hält der heutige Gauvorsitzende des Trachtenverbandes Unterfranken, in diesen Heften genau fest, woher die "Zugänge" kommen, um was es sich handelt und wie sie "trachtenhistorisch" einzuordnen sind.     

Um die Welt der Mode von einst komplett darzustellen, gehört auch die weniger prachtvolle Seite, der Waschtag, dazu. Die hochwertigen Stoffe aus Samt und Seide dürften dabei weniger mit 'Stömpfer' Waschbrett und Kernseife in Berührung gekommen sein, sondern die robustere Alltagstracht, die auch im Stall oder auf dem Acker getragen wurde. In den Räumen der Geldersheimer Trachtensammlung kann man bewundern, wie das einst ausgesehen hat, wenn die 'Unterröck' zum Trocknen aufgehängt wurden.
Foto: Helmut Glauch | Um die Welt der Mode von einst komplett darzustellen, gehört auch die weniger prachtvolle Seite, der Waschtag, dazu.
Liebevoll geführt und erfrischend analog. Die Buchführung über die Bestände der Geldersheimer Trachtensammlung.
Foto: Helmut Glauch | Liebevoll geführt und erfrischend analog. Die Buchführung über die Bestände der Geldersheimer Trachtensammlung.

Und die kunstfertig gewebten und oft mit aufwendigen Verzierungen und wertvollen Knöpfen versehenen Stücke kamen buchstäblich aus Ortschaften aller vier Himmelsrichtungen. In Geldersheim selbst zum Beispiel starb das letzte permanent baurische Tracht tragende "Frääla", im Jahr 2000. Die Erben wussten oft wenig oder gar nichts mit der textilen Hinterlassenschaft ihrer Verwandschaft anzufangen. Im besten Fall wendeten sie sich an Oliver Brust, um so den Fundus der Trachtensammlung zu bereichern.

"Da wurde aber auch sehr viel weggeschmissen", ist sich Brust sicher, und darunter sei auch sicher so manche Kostbarkeit gewesen. Noch heute kündigt sich hin und wieder jemand mit einem "Wäschekorb oder Karton voller Tracht" an. "Was bis heute in Schränken oder Wäschetruhen überlebt hat, wird auch nicht mehr weggeschmissen", ist sich Oliver Brust sicher. Die Wertschätzung für die Bekleidung einer vergangenen Epoche sei gestiegen, meint er.

Der Blickwinkel vieler hat sich geändert, von "altes Zeuch" hin zu "faszinierende Formen und Farben". Nicht nur junge Frauen, die zum Beispiel beim Geldersheimer Verein für Heimat- und Brauchtumspflege tanzen, haben erkannt, dass die Vielfalt an Jäckchen oder Blusen die Auswahl in den gängigen Modegeschäften von heute mitunter ganz schön alt aussehen lässt. Und in der Tat, was Oliver Brust da so alles aus den Schränken holt und auftischt, zeigt, dass Kleidung einst so viel mehr wollte und konnte, als nur warm zu halten. Jedes Kopftuch, jeder Rock (die ältesten sind von 1850) ist ein Ausdruck des gesellschaftlichen Standes, der Lebenssituation und des Anlasses, zu dem sie getragen wurden. "In der Kirche waren die Frauen schon an ihren Kopftüchern zu erkennen", so Oliver Brust. 

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Der "Dresscode", wenn man so will, war klar definiert und doch streng. Man muss sich schon genau damit beschäftigen um genau nachvollziehen zu können, warum an welchen Werktagen welche Farbe und welches Muster getragen wurde, ob es an genau diesem Tag Fransen aus Wolle oder Seide sein mussten. "Eine Wissenschaft für sich" ist die regionale Tracht ohne Zweifel. In Zeiten, in denen unterschiedliche Tracht nicht nur an Sonn- und Festtagen und zu besonderen Anlässen getragen wurde, sondern es auch eine Alltagstracht und sogar eine für den Trauerfall gab, war die Kleidung der Frau erste Wahl, wenn es darum ging Identität und Gemeinschaft zu stiften. Aber auch um gesellschaftliche Einordnung zu ermöglichen.

Seidige Stoffe, Muster mit Liebe zum Detail. Im Vordergrund ein sogenannte 'Gerntäschle' von 1888. Ein Vorläufer der Handtasche, in dem die Frau einst ihre ganz privaten Dinge dabei hatte.
Foto: Helmut Glauch | Seidige Stoffe, Muster mit Liebe zum Detail. Im Vordergrund ein sogenannte "Gerntäschle" von 1888. Ein Vorläufer der Handtasche, in dem die Frau einst ihre ganz privaten Dinge dabei hatte.

"Aussteigen aus der Trachtenwelt war nicht möglich, wollte eine Frau nicht ihren Ruf verlieren", skizziert Oliver Brust die Kehrseite der Pracht der Tracht. Haare abschneiden, oder zum Beispiel in einer Gemeinde mit Trachtentradition nicht so gewandet zur Kirche zu gehen, hätte unweigerlich "Gerede" provoziert. War der Ruf erst ruiniert, ließ der sich nur ganz schlecht wieder reparieren, das gesellschaftliche Korsett, um in der Sprache zu bleiben, war schon sehr eng.      

Knopfleiste von hinten. Die durchgestochenen Knopfösen wurden mit einem Extra-Faden vernäht.
Foto: Helmut Glauch | Knopfleiste von hinten. Die durchgestochenen Knopfösen wurden mit einem Extra-Faden vernäht.

Doch was getragen wurde, ließt die Frau von Stand sich etwas kosten. Die Kleidungsstücke haben keine Größenangaben, wurden so gut wie nie "von der Stange" gekauft, sondern maßgeschneidert für die Trägerin gefertigt. Oft wurden die guten Stücke innerhalb der Familien weitervererbt, gute Trachten wurden nicht nur Jahre, sondern oft Jahrzehnte getragen. Oliver Brust, selbst leidenschaftlicher Trachtler, der sich zum Beispiel seine herrlichen Stramin-Schuhe und die dazu passenden Hosenträger selbst bestickt hat, kennt sich aus mit der Kunstfertigkeit, die beim Trachtenmachen einst in den Webstuhl gelegt wurde. An der Art wie die Ärmel gerafft, wie ein Muster eingewebt wurde, ob der Stoff gar "geflammte Strukturen" hat, erkennt der Fachmann Herkunft, Handschrift und Alter der wertvollen Stücke.       

Eins ist klar, Mode war auch schon vor mehr als 100 Jahren nicht in Stein gemeißelt, hat sich verändert, wenn auch viel langsamer und behutsamer als dies heute der Fall ist. Und es sind wahrlich nicht nur Blumen und Blätter, die ihren Weg auf den Stoff fanden. Manches Muster wirkt beinahe schon exotisch oder betört mit intensiven Farben. Opferbaum, Hambach, Greßthal, Egenhausen und natürlich Geldersheim – Die Liste der Orte, aus denen die Stücke der Trachtensammlung stammen, ließe sich beinahe beliebig fortsetzen. Die wertvollsten Stücke lagert Oliver Brust in extra säurefrei gebleichten Kartons, die den Stoff nicht angreifen.

Von gediegen bis beinahe schon exotisch anmutend. Die Nähtechnik des linken Ärmels verrät die Geldersheimer Machart, so Oliver Brust.
Foto: Helmut Glauch | Von gediegen bis beinahe schon exotisch anmutend. Die Nähtechnik des linken Ärmels verrät die Geldersheimer Machart, so Oliver Brust.
Ein besonderer Schatz: In diesem Tuch ist noch das Original-Etikett eingesteckt. Es darf vermutet werden, dass es 100 Jahre ungetragen im Schrank lag.
Foto: Helmut Glauch | Ein besonderer Schatz: In diesem Tuch ist noch das Original-Etikett eingesteckt. Es darf vermutet werden, dass es 100 Jahre ungetragen im Schrank lag.

Die Pflege der teuren Stoffe und empfindlichen Stickereien ist ohnehin ein Thema für sich. Falsches Waschen hätte schnell das Ende der Pracht bedeutet, der Stoff wäre eingegangen, Farben verlaufen oder verblasst. Für die empfindlichen Kopftücher fertigten sich die Frauen extra "Untertücher", damit sie nicht mit dem eventuell fettigen Haar in Berührung kamen. Und dennoch war diese Art der Kleidung enorm zweckmäßig und in ihrer weniger aufwendigen Form (Alltagstracht) enorm durchdacht. Innentaschen, die so genäht sind, dass sie "nicht auftragen", also von außen nicht sichtbar sind, Aufhänger, die so quer genäht sind, dass das Stück sich nicht faltig hängt, machen Staunen, liefern Einblicke in die Schneider-Raffinesse von einst. Selbst die schonenden Falt-Technik für diese Handmade-Mode von einst ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.        

Nach 150 Jahren noch brillante Farben. Oliver Brust präsentiert einige Prachtstücke der Rock-Sammlung. Der Reifrock, den er in der Hand hält, sorgte darunter für die runde Trageform.
Foto: Helmut Glauch | Nach 150 Jahren noch brillante Farben. Oliver Brust präsentiert einige Prachtstücke der Rock-Sammlung. Der Reifrock, den er in der Hand hält, sorgte darunter für die runde Trageform.

Aber nicht bei Oliver Brust. Buchstäblich von Kindesbeinen an, war er fasziniert von den edlen Stoffen, von Geschichte, Entwicklung und Bedeutung der regionalen Tracht. Im Rahmen einer mehrteiligen Serie wird er in die kommenden Wochen in dieser Zeitung Einblicke in eine Zeit geben, in der ein Kleidungsstück noch eine Anschaffung fürs Leben war.      

Diese traditionellen Stramin-Schuhe hat sich Oliver Brust vor Jahren selbst bestickt. Wenn es nass draußen ist, sollte man sich allerdings festeres Schuhwerk auswählen.
Foto: Helmut Glauch | Diese traditionellen Stramin-Schuhe hat sich Oliver Brust vor Jahren selbst bestickt. Wenn es nass draußen ist, sollte man sich allerdings festeres Schuhwerk auswählen.
 
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