Dass die Welt bereits lange vor Christi Geburt gehörig aus den Fugen war, wissen wir aus der griechischen Mythologie. An diesem Zustand hat sich bis heute nicht viel geändert. Dass vor den Toren psychiatrischer Kliniken mehr Wahnsinnige unterwegs sind als auf den Fluren geschlossener Anstalten, ist uns spätestens seit „Einer flog über das Kuckucksnest“ bekannt. Oder auch seit Dürrenmatts „Die Physiker“.
Wenn wir wollten, fänden wir im richtigen Leben dafür Beispiele ohne Ende. Deshalb kommt es nicht ganz von ungefähr, dass sich das Meininger Theater in der ersten Inszenierung der Bürgerbühne des Themas mit einem selbstentwickelten Stück namens „Die Wissenschaftler“ annimmt – ein ziemlich freier Diskurs nach Dürrenmatts Drama. Das Team um Theaterpädagogin Gabriela Gillert setzt in den Kammerspielen die Handlung in die Welt, die die Laienschauspieler aus leibhaftiger Erfahrung kennen.
Es gibt im Stück drei Anstaltsinsassen, die sich Einstein (Christian Dressel), Newton (Peter Weinlich) und Möbius (Hans-Peter Feix) nennen. Es gibt ein luxuriöses Sanatorium mitten im Thüringer Wald, in dem die drei Unterschlupf gefunden haben. Es gibt eine obskure Psychiaterin (Anja Wittek) und dazu noch eine ebenso seltsame Anstaltsleiterin (Christin Jung).
Es gibt drei ermordete Krankenschwestern, von denen wir eine noch lebendig sehen (Babette Baumeier), und einen resigniert ermittelnden Inspektor (Klaus Fürst). Es gibt die Frau des genialen Physikers Möbius (Marion Thieme). Und schließlich erscheint sogar der Geist von König Salomon (dessen Weltformel der Physiker Möbius bei Dürrenmatt ja zu vernichten gedenkt) in Gestalt des Hochschullehrers und ehemaligen Thüringer Kulturministers Jens Goebel.
Zweifelsohne passt dem Mathematiker die Rolle wie angegossen. Er steht schon vor Beginn des Stückes auf der Bühne und schreibt, vor sich hin dozierend, eine nicht enden wollende mathematische Formel an die transparente Wand (Bühnenbild: Helge Ullmann). Später taucht er dann mit wuscheliger Barockperücke auf und rezitiert aus „Faust II“ über Geld. Selbst wenn man Goebel als Politiker eher mit Skepsis betrachtet hat: Auf der Bühne macht er eine gute Figur und offenbart sogar selbstironische Züge.
Bei aller Ernsthaftigkeit der Gedanken, die die Beteiligten von sich geben: Das Wesentliche sind nicht die Erkenntnisse über die Schrecken des wissenschaftlichen Fortschritts und die Forderung nach Entschleunigung des Lebens in einer Welt des „Höher-schneller-weiter“. Da hakt es manchmal in der Dramaturgie und in der Logik der Handlung und es werden Sätze gesprochen, die man sonst höchstens auf Flugblättern gedruckt findet.
Bedeutender sind die Spielleidenschaft und die Offenheit, mit der die Darsteller ihre Sicht des Lebens zum Besten geben. Es treten Begabungen zu Tage, über die man nur staunen kann. Wenn die Schauspieler von den Ambivalenzen erzählen, mit denen sie in ihrem (echten) Berufsleben zu kämpfen haben – Chemiker, Bauingenieur, Qualitätsvorplaner, Kaufmann, Verwaltungsfachwirtin, OP-Schwester, Unternehmerin, Familientherapeutin –, wenn sie von den tagtäglichen Widersprüchlichkeiten berichten, dann ist das zwar spannend im Sinne einer Zivilisationskritik. Aber das eigentlich Faszinierende sind einzelne Szenenauftritte, in denen die Amateure zu ungeahnter mimischer Höchstform auflaufen. Marion Thieme, zum Beispiel, wenn sie mit viel Selbstironie von einer überwundenden Ehe erzählt („Ich war der Keks und er war der Kaffee“), Anja Wittek mit ihrem furiosen rhetorischen Marsch durch die Welt von Leistungsstress und Antidepressiva (nur das bestätigende „Das ist krank!“ könnte sie sich sparen). Oder Christin Jung in ihrer bedrohlich charmanten Art, mit der sie ihren Rang als Alphatier begründet.
Ein gelungener Auftakt der Meininger Bürgerbühne vor vollem Haus. Wir dürfen gespannt sein, wie das nächste Thema umgesetzt wird: „Theater mon amour – Eine Liebesgeschichte“.
Nächste Vorstellungen am 20. und 21. Januar, jeweils 20 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. www.das-meininger-theater.de