Du trittst ein, in den weiß getünchten Saal des Casteller Rathauses. Dein Blick trifft ein Bild, das deine Augen fesselt. Das kenne ich, schießt es dir durch den Kopf. Treibholz an einem wunderschönen Strand, dahinter sanfte Hügel. Du trittst näher. Überraschung! Das Bild „wie gemalt“ ist überhaupt nicht gemalt.
Du fokussierst eine Treibholzwurzel. Je näher du ihr kommst, desto mehr löst sie sich auf – in Schriftzeichen, Zeitungs- und Seidenpapiere, ja sogar Teile von Comics. Du traust deinen Augen kaum. Dann schreitest du langsam rückwärts und die Details verwandeln sich zurück in einen wunderschönen Strand mit Treibholz.
Tausende Papierfragmente
Claudia Schultheis verzaubert Menschen mit Werken, die nicht aus Pinselstrichen bestehen, sondern aus tausenden Papierfragmenten. „Ihre Art zu arbeiten ist im Lauf der Jahre gewachsen, ich glaube, sie ist einzigartig auf der Welt“, sagt ihr Mann Thomas. „Das ist wie bei einem Gitarristen, der seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Sound gefunden hat.“
Am Mittwoch sind die beiden nach Unterfranken, nach Castell, gereist – elf Bilder im Gepäck. Warum es die Weltbürger ausgerechnet in diesen kleinen Ort zieht? Weil Kunst manchmal seltsame Wege geht. Im April vergangenen Jahres ist Thomas' Schwester Kathrin innerhalb von Castell umgezogen.
Ehrensache, dass ihre Schwägerin beim Umzug half. Und so kam es, dass die gebürtige Kanadierin, die unter anderem in Hongkong, Menorca, England und der Schweiz gelebt hat und nun ein Atelier in der Berliner „Kreativstadt Weißensee“ ihr Eigen nennt, die Casteller Kunstfreundin Ulrike von Schultzendorff (Kulturgemeinde Castell) kennen lernte.
Aus dieser Begegnung sind „Horizonte“ erwachsen – im wahrsten Sinn des Wortes. Diesen Titel hat Claudia Schultheis den Papierlandschaften gegeben, die sie ab derzeit in Castell zeigt.
Stürzendes Wasser
Neben Vancouver Island (Canada) mit seinem Treibholz-Strand oder der Bucht von Cala Esteve (Menorca) ziehen auch die Wasserfälle von Iguazú (Brasilien/ Argentinien) die Besucher in ihren Bann. Die beiden großformatigen Werke (140 mal 180 Zentimeter) sind Claudias und Thomas' Lieblingsbilder, sie strotzen vor Kraft, das Wasser stürzt sich tosend in den Abgrund, Dunst wabert auf. „Aber am meisten Spaß habe ich an den komplizierten Bildern. Ich will auch in Holz und Steine Leben bringen“, erklärt die Künstlerin in exzellentem Deutsch.
Ihr Treibholz beispielsweise lebt auf vielfältige Weise. Asiatische Zeitungsausschnitte weisen darauf hin, dass dem Paradies rund um Vancouver Island große Wunden geschlagen wurden – Wälder wurden abgeholzt, für den Export von billigen Holz- und Papierprodukten für den asiatischen Markt. Aber nicht nur kritische, auch romantisch-spirituelle Texte, Fragmente aus Geschichten, die ihr persönlich etwas bedeuten, hat Claudia Schultheis ins große Ganze eingearbeitet.
Wenn sie in ihren Lieblingsläden zwischen Berlin, London und Toronto doch nicht das richtige Papier findet, dann macht sie sich ihr eigenes. Manchmal schreibt sie Gedanken darauf, dann wieder geht es ihr nur um die richtige Farbe.
Sie legt bei jedem Werk viele Kilometer zurück, weil sie immer wieder zurücktritt, um die Gesamtwirkung zu überprüfen. Ihr Mann Thomas verrät: „Für ein großes Bild kommen leicht um die 300 Arbeitsstunden zusammen.“ Claudia lächelt dazu – und schweigt. Für sie sind diese „Arbeitsstunden“ kein Muss, sondern eine Möglichkeit, etwas wachsen zu lassen, zu kommunizieren. Sie ist eine Zauberin an der Staffelei, eine Malerin ohne Pinsel, sondern mit Papier. Sie sagt: „Jetzt mache ich das, was ich immer tun wollte.“
Horizonte einer Weltreisenden
In Montreal aufgewachsen, ist Claudia Schultheis wegen des Berufs ihres Vaters als Kind vielfach zwischen Nordamerika und Europa umgezogen. In Toronto, Canada, hat sie Kunstgeschichte und Germanistik studiert.
Zusammen mit ihrem Mann Thomas hat sie nicht nur eine Weltreise unternommen, sondern war mit ihm in der Textilbranche tätig. Ihre künstlerische Ader – schon als Kind hatte sie gern gebastelt und gemalt – brach so richtig durch, als sie in China und auf Menorca viele inspirierende Eindrücke sammelte und diese in Bildern verarbeitete, zuerst in Collagen- und Quilttechniken. Doch immer mehr entwickelte sie ihre eigene „Papier-Malerei“.
Ausstellung: Claudia Schultheis „Horizonte“, zu denen auch die Bilder-Trilogie „Spiral“ zählt, sind im Casteller Rathaus noch bis 29. September zu sehen.
Am 28. und 29. September ist die Ausstellung zwischen 14 und 18 Uhr geöffnet, ansonsten nach Vereinbarung unter Telefon Tel. (01 51) 41 83 31 77. „Ich freue mich, über meine Bilder mit den Menschen in Kontakt zu kommen“, stellt Claudia Schultheis fest.