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SCHWEINFURT
Die größte Totenklage
Von Rudolf Kreutner Geschäftsführer der Rückert-Gesellschaft
 |  aktualisiert: 23.09.2013 17:45 Uhr

„Nein, ich hab es mir geschworen, euer Leben fort zu dichten. . . – Friedrich Rückerts Kindertodtenlieder im Horizont von Literatur, Musik, Philosophie und Medizin“ – so lautet das Thema der Tagung zum 50-jährigen Bestehen der Rückert-Gesellschaft. Zu den schmerzlichsten Erfahrungen des Menschen gehört der durch den Tod erzwungene Abschied von seinen Liebsten. Während man beim alten Menschen, zumal wenn sein Sterben von Krankheit und körperlicher Hinfälligkeit begleitet wird, oft von Erlösung spricht, empfindet man den Tod eines Kindes, das die Schwelle zum Leben gerade erst überschritten hat, als grausam, ja als zutiefst ungerecht.

Anders als in der Antike und den unter ihrem Einfluss stehenden Jahrhunderten ist man heute weit davon entfernt, den Tod im Kindesalter als Prädestination durch eine schicksalhafte oder göttliche Macht zu begreifen. Die rigorose Zäsur, die ein solcher Tod setzt, wirft die Hinterbliebenen nicht nur auf ihre eigene Endlichkeit zurück, sondern stürzt sie in Trauer, Verzweiflung und Hader angesichts eines Verlusts, der kaum zu bewältigen scheint. Eine besondere Erschwernis kommt noch hinzu: Während ein Greis, der nach einem erfüllten Leben stirbt, eine Vielzahl von Dingen hinterlässt, welche die Erinnerung an ihn lebendig halten, verliert sich das kurze Leben eines Klein- oder Kleinstkindes oft ins Spurenlose.

Im Dezember 1833 erkrankten alle sechs Kinder des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert (1788-1866) an Scharlach. Während sich vier wieder erholten, erlagen die „beiden liebsten und schönsten“ der seinerzeit nicht therapierbaren Infektionskrankheit: Rückerts jüngstes Kind und einzige Tochter Luise (geboren 25. Juni 1830) am 31. Dezember 1833, sein Sohn Ernst (geboren 4. Januar 1829) am 16. Januar 1834. In mehr als 400 Gedichten suchte Rückert den Tod der Kinder zu bewältigen, Gedichten, die er nicht zur Veröffentlichung bestimmte, sondern in der Schublade seines Schreibtisches verschwinden ließ, ehe sein Sohn Heinrich sie 1872 anonym aus dem Nachlass herausgab.

Variabel in ihrer formalen und inhaltlichen Gestalt formieren sie sich zur „größten Totenklage der Weltliteratur“ (Hans Wollschläger), die sich vielfach als gebethafte Zwiesprache mit den Verstorbenen zu erkennen gibt und den Verlust in der Poesie performativ zu überwinden sucht. Die Kindertodtenlieder bilden den ersten thematisch geschlossenen Zyklus innerhalb eines literarischen Genres, das bis dahin zumeist nur in einzelnen Kasualgedichten in Erscheinung getreten war. Gustav Mahlers Vertonung von fünf Gedichten machte sie einem breiteren Publikum zugänglich und markierte einen Höhepunkt in der Geschichte des deutschen Kunstlieds.

Die Literaturwissenschaft hat Rückerts Gedichten wie überhaupt dem literarischen Genre der Kindertotendichtung als solchem bislang nur sporadisch Aufmerksamkeit geschenkt und nur kurze Interpretationen zu einzelnen Gedichten hervorgebracht. Monographien und Sammelbände fehlen, obwohl sich vor allem für das 16./17. und das 19. Jahrhundert eine nur noch exemplarisch fassbare Quantität von Kindertotengedichten verzeichnen lässt.

Die Tagung der Rückert-Gesellschaft gilt einem Forschungsdesiderat. Wird auf literarhistorischer Ebene erstmals der Versuch unternommen, Rückerts Kindertodtenlieder in einer Tradition zu verorten, die von Martin Luther (1483–1546) über Paul Gerhardt (1607–1676), Andreas Gryphius (1616–1664), Joseph von Eichendorff (1788–1857), Ludwig Uhland (1787–1862), Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) und Wilhelm Raabe (1831–1910) bis hin zu Stefan George (1868–1933), Else Lasker-Schüler (1869–1945), Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), Nelly Sachs (1891–1970), Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) und Peter Huchel (1903–1981) führt, so wird diese philologische Perspektive ergänzt durch die kulturgeschichtliche, die philosophische, die theologische, die musikwissenschaftliche und nicht zuletzt die medizinische. Der Dialog der Wissenschaftsdisziplinen soll zu einem vertieften Verständnis des Phänomens der Kindertotendichtung führen.

Die Tagung findet vom 4. bis 6. Oktober im Museum Otto Schäfer statt. Programm nächste Seite. Organisation: Ralf Georg Czapla, Professor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Rudolf Kreutner.

Rückert-Tagung im MOS

Freitag, 4. Oktober

9.30 Uhr Andreas Urs Sommer (Universität Freiburg): Die Philosophen und der Kindstod. 10.45 Uhr Ralf Georg Czapla (Universität Heidelberg): „... euer Leben fort zu dich-ten.“ – Überlegungen zur Typologie der Kindertotendichtung anhand ausgewählter Gedichte von Gryphius, Eichendorff, Rückert, Raabe und Sachs. 11.30 Uhr Jost Eickmeyer (Universität Heidelberg): „Ein Herzensbrechen, das kein Mund kann recht aussprechen“. Kindertotendichtung im frühneuzeitlichen Protestantismus. 14.30 Uhr Karin Vorderstemann (Arbeitsstelle Goethe-Wörterbuch, Hamburg): „Nur gestorben bist du, nicht verloren“. Kindstod-Dichtungen in Musenalmanachen und Taschenbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts. 15.45 Uhr Georg Langenhorst (Universität Augsburg): „In Gottes Namen!“ Rückerts „Kindertodtenlieder“ zwischen Klage und Gottergebenheit. Ein theologisch-literarischer Zugang. Abendvortrag: 19.30 Uhr

Volker Hesse (Charité-Universitätsmedizin Berlin): Kindstod im 19. Jahrhundert. Betrachtungen zu Friedrich Rückerts Kindertotendichtung aus medizinischer Sicht.

Samstag, 5. Oktober

9.30 Uhr Michael Neumann (Universität Eichstätt): Rettung in die Form: Rückerts „Kindertodtenlieder“ in der Tradition der Totenklage. 10.45 Uhr Denis Forasacco (Akdeniz Üniversitesi Antalya): „In ihrem großen Leib [...] waren zwei Früchte: ein Kind und ein Tod“. Das Thema des verweigerten Lebens in der Literatur des 19. Jahrhunderts. 11.30 Uhr Silvia Irina Zimmermann (Forschungsstelle Carmen Sylva des Fürstlich Wiedischen Archivs Neuwied): „Mein Kind ist mein einzig gutes Gedicht!“ – Kindstod und Kinderlosigkeit bei Carmen Sylva. Von der poetischen Trauerverarbeitung bis zur Legitimierung literarischer Öffentlichkeitsarbeit im Dienst der Krone. 14.30 Uhr Friederike Reents (Universität Heidelberg): In Memoriam Morgue. Gottfried Benns tote Kinder. 15.45 Uhr Thomas Homscheid (Universität Innsbruck): „In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs“ – Reflexion und Rekonstruktion von Kindheit in der deutschen Lyrik nach Auschwitz 19.30 Uhr Konzert im Theater der Stadt:

Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert (1788-1866) mit Michael Volle (Bariton; Staatsoper München) und Helmut Deutsch (Piano). Sonntag, 6. Oktober

9.30 Uhr Christian Moser (Universität Bonn): Friedrich Rückert und das Motiv des toten Kindes in der europäischen Romantik. 10.45 Uhr Alexis Eideneier (Aachen): Dialogizität der Trauer. Die Kindertotendichtungen von Stefan Andres. 11.30 Resümee Die Teilnahme ist kostenlos.

Erstausgabe: Rückerts Kindertodtenlieder von 1872.
Foto: Rückert-Gesellschaft | Erstausgabe: Rückerts Kindertodtenlieder von 1872.
 
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