Zu Beginn des Ersten Weltkriegs erhielten die Soldaten der „Entente“ noch Schützenhilfe vom Feind: Wann immer der Deutsche seinen Kopf über den Schützengraben reckte, kündigte er sich an, mit der Spitze seiner Pickelhaube, die ursprünglich Säbelhiebe der Kavallerie abwehren sollte.
Im Stellungskrieg hatte sich die Reiterei rar gemacht, stattdessen bot der lederne Kopfschutz eine Einladung zum Kopfschuss. Das Trommelfeuer der Artillerie tat sein Übriges zu insgesamt 17 Millionen Toten, 20 Millionen Verwundeten, und völlig neuartigen Verletzungen.
Es geht um „Gesicht-Kunst-Chirurgie“ in den Bild-Vorträgen von Professor Dr. Dr. Rainer Schmelzeisen, Experte für Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie der Uni Freiburg, sowie von Professor Dr. Dr. Alexander Kübler, Berufskollege der Uni Würzburg, im Kunstsalong.
Es waren völlig neuartige Kriegs-Verletzungen, mit denen die Chirurgie seit 1914 zu kämpfen hatte, für die Künstler eine „Ästhetik des Schreckens“, aber auch ein großer Anschub für die zivile Medizin. „Trümmer des Südens“ nennt sich eine Schmelzeisen-Ausstellung in der Kunsthalle, mit Lentikularbildern, die, je nach Betrachtungsweise, neue oder sich überlagernde Szenen zeigen: unter anderem einen Vorfahren des Künstlers, der als Kampfflieger im Fronteinsatz war. In manchen der Fotokästen zeigen sich, bei einem Perspektivenwechsel, plötzlich ebenfalls Tod und Verfall, als „Memento mori“.
Die Materialschlacht von Verdun jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Auch der Große Krieg war ein Perspektivenwechsel, der in der Malerei Widerhall gefunden hat, in schonungslos wahrhaftigen Bildern eines Beckmann oder Dix. Die Leinwand zeigt weggeschossene Unterkiefer, in Gesichter gesprengte Krater, das Elend der Kriegszitterer und Invaliden. Verrottung, Verrohung, Verstümmelung hielten im Zeitgeist Einzug, „Die modernen Waffensysteme wurden unterschätzt“, sagt Schmelzeisen.
Der Kontakt zu Ausstellungs-Organisator Stefan Muffert kam durch die Gottfried-Benn-Gesellschaft zustande. Der Dichter selbst erlebte den Krieg als Sanitätsoffizier, mit kühler, harter Distanz. 108 254 Kopf- und Gesichtsverletzte zählte die deutsche Statistik am Ende, es gab allein zehn stationäre Abteilungen für Kieferverwundungen.
1916 war das Jahr, in dem erstmals der „deutsche Stahlhelm“ M16 zum Einsatz gelangte, in der Hölle vor Verdun, entwickelt vom Militärarzt August Bier und dem Techniker Friedrich Schwerd (angeblich inspiriert durch den gotischen Schallern-Helm im Dürer-Meisterstich „Ritter, Tod und Teufel“, der derzeit im Museum Otto Schäfer ausgestellt wird).
Tod und Teufel begleitete den Landser dann auch in den Zweiten Weltkrieg: Die Chirurgie zog nach, experimentierte mit aufwendigen Operationen, mit denen Verstümmelten wieder ein Gesicht gegeben wurde, etwa durch das Annähen von Bauchlappen. „Chinese Flap“ nennt sich ein Verfahren, bei dem Teile des Unterarms, inklusive Arterie, transplantiert werden. Aus dem Wadenbein und anderen Knochen lässt sich Ersatz für den Kiefer schneiden. „Es könnte fast abstrakte Kunst sein“, sinniert Schmelzeisen.
„Schußverletzungen haben wir heute selten“, sagen die Ärzte. Schwere Arbeits -und Verkehrsunfälle, Tumore, angeborene Deformationen sind die neuen Herausforderungen. Alexander Kübler berichtet von dieser Art von „Kunst“. Plastische Gesichtschirurgie ist nach wie vor nichts für zarte Nerven. Sigmund Freud, der an Gaumenkrebs litt, wurde 31-mal operiert, am Ende bat er um eine Überdosis Morphin.
Seither hat sich viel getan, 3D-Computermodelle und Navigationssysteme erleichtern die Eingriffe, die oft endoskopisch verlaufen, ohne größere Verletzungen. 3D-Drucker formen komplexe „Augenepithesen“ als Ersatz, lasermodelliert werden Titanimplantate für Kiefer oder Schädel, manche Verschraubungen lösen sich im Heilungsprozess von selbst auf.
Auch wenn die sterile Kunstwelt der Friedensmedizin fast das Gegenteil der Kriegsfratzen eines Otto Dix darstellt: Letztlich geht es heute wie damals darum, Unerträgliches zu mildern.