Die Weihnachtsgeschichte wird in diesen Tagen oft erzählt und nachgespielt, meist mit einem Hauch besinnlicher, anrührender Nostalgie. Herbergsuche, Kindermord, Flucht verlieren auf diese Weise nicht nur ihre eigentliche Dramatik und ihre biblische Aussage. Sie nehmen den damit verbundenen menschlichen Schrecken und Verzweiflung ihre leidvolle Bedeutung. Es ist an der Zeit, die Weihnachtsgeschichte mit den schrecklichen Erfahrungen der Flüchtlinge vor den europäischen Grenzen und den aus Syrien und anderswo Vertriebenen zu deuten. Die ganze Dramatik der heiligen Nacht muss beispielsweise mit den Augen von Menschen gelesen werden, die vor Lampedusa gescheitert sind.
Wir versuchen zu diesem Fest, an dem Gott Mensch wurde, diese andere Sicht in sieben biblischen Bildern darzustellen und in unsere Tage zu übersetzen. Verbunden mit dem Aufruf, aus Weihnachten etwas zu machen, nämlich menschlich und hilfsbereit miteinander umzugehen.
„Er stürzt die Mächtigen vom Thron und bringt die Armen zu Ehren“ (Lk 1,52).
Maria war nicht die demütige Magd, zu der sie von einer Kirche gemacht wurde. Sie war eine Visionärin, eine Frau voller Hoffnung, dass endlich den Armen im Lande Gerechtigkeit widerfahren sollte. Unter diesem Blick geht sie über das Gebirge zu Elisabeth, einer Verwandten, die ebenfalls voll der Hoffnung war, dass es ein anderes, ein besseres Leben geben müsse.
Die Frauen in Syrien, im Iran oder in Afghanistan tragen diesen Aufbruch ebenfalls in ihrem Herzen. Sie bleiben durch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse diskriminiert und unterdrückt. Dazu trägt auch eine fundamentalistische Auslegung des Korans in ihren Ländern bei. Die Situation vieler Frauen in aller Welt ist ein Armutszeugnis für die ganze Menschheitsfamilie. Eine Schande, wie Papst Franziskus sagt.
Ein Stern am Himmel: „Wir haben seinen Stern aufgehen sehen“ (Mt 2,2b).
Zukunft muss es geben für alle Menschen, Freiheit für alle Hautfarben und Religionen, neue Hoffnung für sie auf ein menschenwürdiges Leben. Warum dieses neuen Leben nicht dort suchen, wo die blaue Flagge Europas 15 goldene Sterne zeigt?
Leider steht die Verheißung nur auf dem Papier. Die europäischen Sterne verlieren ihr Leuchten in einer menschenfeindlichen Politik und einer menschenverachtenden Bürokratie. Ein reiches Europa hat nichts übrig für Menschen aus armen Ländern. Nicht Hoffnung ist angesagt an den Grenzen, sondern Tod, Untergang und Menschenverachtung.
Herbergsuche: „Maria gebar ihren Sohn, legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war“ (Lk 2,7).
Unterm heimischen Christbaum oder in der gut geheizten Kirche, in der es immer noch einen Platz gibt, lässt sich die Geschichte von der Herbergsuche gefühlvoll erzählen und mit Krippenspiel, Liedern und Orgelklang und anschließendem Glühweinplausch beschaulich feiern.
An unseren Grenzen und Küsten aber heißt es: Wir haben keinen Platz für euch. Nicht einmal in einem Stall, sondern höchstens in Massenlagern zusammengepfercht oder unter freiem Himmel. Zugleich ist alles zur Abschiebung vorbereitet in ein Leben, das keine Zukunft, sondern nur Verzweiflung kennt.
Gott wird Mensch: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren, der Messias“ (Lk 2,11).
Gott wird Mensch nicht nur in Bethlehem, sondern überall. Er will Mensch werden in unseren Herzen. Er will der Retter sein, der aus der Gefahr errettet, der Heiland, der den Hunger stillt und die Wunden heilt, der Messias, der die Hoffnungen der Menschheit erfüllt. Mit unserer Hilfe.
Doch Gottes Menschwerdung geht in den neuen Götzen unter, überall wird das Geld, das Goldene Kalb angebetet. Die Diktatur der Wirtschaft ohne Gesicht und ohne Ziel, hat dem Menschen und damit der Menschwerdung den Vorrang genommen. 800 Millionen Menschen hungern, verhungern. Nicht weil es an Nahrungsmitteln mangelt, sondern an der Bereitschaft zu teilen und gerecht zu verteilen.
Kindermord: „Herodes ließ uns Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben im Alter von zwei Jahren und darunter töten“ (Mt 2,16).
Herodes hat es gezeigt, wer die Macht hat, die Macht auch über Leben und Tod. Die Entscheidung über das Leben und die Zukunft der Kinder. Es geht dem König um nichts als um die Sicherheit seines Thrones.
Das Trauma des Kindermords und ihrer Seelen wiederholt sich in unseren Tagen. Tausende Kinder verhungern jeden Tag, werden als Kindersoldaten, als Kinderarbeiter und Sexgespiele missbraucht, fallen Soldaten, Rebellen, den Bomben, Sprengsätzen und Drohnen massenweise zum Opfer.
Flucht nach Ägypten: „Josef stand auf, nahm in der Nacht das Kind und seine Mutter und floh nach Ägypten“ ( Mt 2,14).
Flucht ist oft der einzige Weg, wenigstens das nackte Leben zu retten. Es ist immer eine Flucht in die Unsicherheit, in das Ungewisse. Wehe allen, die keine Zuflucht finden, in Ägypten oder anderswo.
Heute hat die Flucht von Hunderttausenden viele Ursachen. Terror und Krieg auf der einen Seite, aber auch Tsunamis und Hurrikane, Landraub durch Großinvestoren oder durch den Klimawandel, der in vielen Ländern die Quellen versiegen ließ. Deswegen ist für viele Menschen heute Europa oder Amerika das Ägypten in biblischen Zeiten.
Ein neuer Weg: Die Magier zogen auf einem anderen Weg heim in ihr Land“ (Mt 2,12).
Die Magier aus dem Osten wollten nicht mehr zu Herodes, dem Mörder und Diktator zurück. Sie suchten nach neuen Wegen, um in ihre Heimat zurückzukehren.
Wo sind heute die neuen Wege? Europa ist groß und stark genug, um vielen eine neue Heimat, eine Zukunft zu geben. Ein Leben in Fülle könnte es sein, wenn wir alle etwas von unserer Überfülle abgeben wollten. Und wer weiß: Einmal werden die Flüchtling ein Segen für den alternden Kontinent sein.
Wenn das Weihnachtsevangelium mit den Augen der Flüchtlinge, der Kriegswaisen und Katastrophenopfer gelesen wird, dann sind wir gefragt: „Was will Weihnachten von uns?“ Uns sollen die Augen aufgehen für den Stern am Himmel, für Jesus aus Bethlehem, der das Reich Gottes als Solidargemeinschaft gesehen hat.
Darin liegt die Zukunft der christlichen Kirchen, dass sie ihre prophetische Vision, ihr politische und gesellschaftliche Kritik wie ihre Inspirationskraft nicht aus dem Augen verlieren: Um der Menschwerdung Gottes willen.
Kritisieren Sie den aktuellen Bischof von Rom ebenfalls? Mit welchen Argumenten?
Zugegeben, ich konnte es mir auch nicht vorstellen, dass ein Papst ähnlich argumentiert und predigt wie Pfarrer Breitenbach.
Schön, dass die Realität mein früheres Vorstellungsvermögen so deutlich übertrifft.
Schade, dass Sie, merrit19, sich durch diese Botschaft der Mitmenschlichkeit so angegriffen fühlen.
Schöne Weihnachten!