„Im Jahr 2000 soll Schweinfurt rund 95000 Menschen Wohn- und Arbeitsstätte sein“ – so steht es in einer Ausgabe dieser Zeitung aus dem Jahr 1963. „Das Gebiet des Deutschhofes soll einmal einen Stadtteil mit rund 14000 Einwohnern bilden.“
Große Visionen
Ein Bericht, der den Beweis für die großen Visionen der damaligen Planer des heute rund 6000 Einwohner großen Stadtteils liefert. Der Artikel stammt aus einer privaten Sammlung von Edgar Kolb. Über Jahrzehnte hinweg hat der 76-Jährige alles gesammelt, was mit dem Deutschhof zu tun hat.
Der 76-Jährige ist Deutschhofer von der ersten Stunde an. Als das Wohngebiet Anfang der 1970er-Jahre nach und nach errichtet wird, ist er einer der ersten, der sich einen Bauplatz sichert. Er selbst bezeichnet sich als „Ureinwohner“ des Stadtteils: „Der Deutschhof ist für mich meine Heimat“. Aus einer Miniwohnung in der Innenstadt ist er damals mit seiner Frau in das neue Haus – einen „besseren Rohbau“ – eingezogen. 5000 Stunden hat er selbst an seinem Heim gebaut; Den Bauablauf hat er akribisch festgehalten; in einem Bautagebuch hat er alle Details handschriftlich dokumentiert.
Die Pläne hat der gelernte Bauzeichner selbst entworfen: „Das ist Geschichte pur“.
Auszug aufs „Gelobte Land“
Seinen Namen hat der Deutschhof vom gleichnamigen Gut, auf dessen ehemaligen Ländereien das heutige Wohngebiet steht. Bereits 1437 hatte die Stadt die Flächen erworben. 1519 kaufte dann die Hospitalstiftung das Gebiet samt Gutshof. Die Gebäude des Gutes existieren noch heute und beherbergen seit 1984 auch den örtlichen evangelischen Kindergarten. Immer noch hängt an der Außenseite des Tores das Siegel der Stiftung – ein Doppelkreuz mit der Heilig-Geist-Taube.
Kolb blättert eine Zeitungsseite weiter; ein Artikel aus dem Jahr 1972 – dem Jahr, in dem der neue Stadtteil Deutschhof errichtet wurde. Der Titel lautet: „Deutschhof zieht aus auf gelobtes Land“. Eine Schlagzeile, die Erinnerungen weckt: „Einige haben damals zu recht kritisiert, dass fruchtbarer Boden und bestes Ackerland bebaut wird“, erzählt er. Da man die landwirtschaftlich genutzten Flächen im Stadtgebiet nicht einfach schmälern durfte, tauschte die Stadt mit der Hospitalstiftung damals die Deutschhof-Bauflächen mit Ländereien bei Schwebheim, Euerdorf und Grettstadt aus.
Dort entstand – als Ersatz – das „neue“ Gut Deutschhof. Die landwirtschaftliche Nutzung auf dem „alten“ Gut wurde schließlich vollends aufgegeben. Ein notwendiger Schritt, wie Kolb sagt: „Ohne den Deutschhof hätte die Stadt nicht weiterwachsen können“.
Nicht verwirklichte Wunschvorstellungen
Errichtet wurde das Wohngebiet nach dem Prinzip des abgestuften Übergangs: Während der flache Bergrücken dicht mit mehrgeschossigen Gebäuden bebaut wurde, wurden die Gebäude zum Hangbereich hin niedriger. „Auf dem höchsten Punkt die höchsten Häuser, das hat schon Sinn gemacht“, erinnert sich Kolb. Entstanden ist das Konzept nach einem städtebaulichen Wettbewerb, bei dem sich eine Aachener Planungsgruppe durchgesetzt hatte. Architekt Erich Kühn wollte den Deutschhof zu einer „weitläufigen Siedlung“ machen, sondern zu einer „Verlängerung der Stadt“ mit eigenem Profil. Der Deutschhof sollte ein attraktiver Standort mit Hallenbad und Freizeitmöglichkeiten werden, ohne dabei „Konkurrenz für die Innenstadt“ zu werden.
Als „Größtmögliche Vielfalt in der Einheit“ hatte der damalige Oberbürgermeister Georg Wichtermann das Planungskonzept bezeichnet. Ab Mitte der 1970er-Jahre, als die ersten Spätaussiedler in die neuen Hochhäuser in Deutschhof-Mitte ziehen, gewinnt das damalige Motto neue Bedeutung: „Die Menschen sind damals mit sehr großen Wunschvorstellungen gekommen, die nicht verwirklicht wurden. Viele Erwachsene hatten eine sehr gute Ausbildung, bekamen aber keine entsprechende Arbeit“, erklärt Georg Voigtländer, der 2003 bis 2012 als Straßensozialarbeiter auf dem Deutschhof arbeitete.
Deutschhof als sozialer Brennpunkt
Für viele sei es schwierig gewesen, Fuß zu fassen – gerade für junge Familien, die unter finanziellem Druck standen. Als Schutzreaktion hätten sich daher viele im Verwandtschaftsverband zurückgezogen: „Der Zusammenhalt hat Stärke entwickelt“, so Voigtländer. Für manche ein Zeichen der Isolation: Der Marktplatz wird abfällig als „Roter Platz“ bezeichnet, der Deutschhof gilt zunehmend als sozialer Brennpunkt.
Als Anfang der 90er-Jahre die Jugendkriminalität zunehmend steigt, wird die Aktion „Gern daheim in Schweinfurt“ ins Leben gerufen. Unter anderem wird im Keller des Gemeindezentrums St. Maximilian Kolbe ein Jugendtreff eingerichtet. Auch heute noch ist er vier Mal wöchentlich geöffnet und erreicht damit 50 Kinder und Jugendliche. Laut Stadtjugendamt werden die Angebote der Jugendarbeit heute von Jugendlichen aus allen Schulformen gleichermaßen genutzt; das Bildungsniveau der jugendlichen Besucher sei in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Gerade bei den russlanddeutschen Jugendlichen zeige sich, dass sie – im Gegensatz zu ihren Eltern – für gewöhnlich nicht mehr mit Sprachbarrieren in Schule, Ausbildung und Beruf zu kämpfen hätten.
Großteil stehe „fest im Leben“
Von den einstigen Unruhen ist heute nichts mehr zu spüren, wie die Polizeiinspektion Schweinfurt bestätigt: Stadtteilgangs oder Banden gibt es auf dem Deutschhof nicht mehr, die Kriminalitätsrate ist gleich zu den in anderen Stadtteilen. Eine Entwicklung, wie sie auch Georg Voigtländer erlebt: „Von denen, die ich damals betreut habe und zu denen ich heute noch Kontakt pflege, steht ein Großteil fest im Leben.“
Auch für Edgar Kolb hat sich über die Jahrzehnte vieles verändert: Mittlerweile sind die meisten Häuser verkauft worden. Viele Freunde von früher sind weggezogen, verstorben oder leben allein – auch Kolb selbst. Das Blättern durch die alten Ordner ist für den 76-Jährigen auch ein Blättern durch die eigene Vergangenheit. Früher, erzählt er, ist er hinter dem Haus immer mit seinem Dobermann spazieren gegangen. Er genieße die Ruhe dort; es sei sein persönlicher „Rückzugsort“. Hinter dem Deutschhof waren schon immer seine Lieblingsorte, sagt Kolb: „Ich hab mich immer wohl gefühlt – hier fehlt es mir an nichts.
Schweinfurter Stadtteile
Georg Müller-Voigtländer,
ehemaliger Streetworker