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SCHWEINFURT
Der Weltpoet und die Märchenbrüder
Oliver Schikora
 |  aktualisiert: 11.03.2021 02:15 Uhr

Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) – der „Romantiker auf dem Thron“ – hat nach seinem Herrschaftsantritt 1840 zahlreiche Schriftsteller und Künstler nach Berlin berufen, darunter auch die Märchensammler und Sprachforscher Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm sowie den Dichter Friedrich Rückert (1788-1866).

Die nach ihrer Teilnahme am Protest der „Göttinger Sieben“ stellungslosen Brüder Grimm erreichte der Ruf nach Berlin schon im November 1840; der bis dahin in Erlangen tätige Rückert erhielt sein Anstellungsdekret im Juni 1841. Lange war bereits über seine Berufung spekuliert worden, im April 1841 verkündete schließlich Wilhelm Grimm seinem Freund und Göttinger Mitstreiter Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) per Brief: „Rückert wird kommen.“

Vor ihrer gemeinsamen Zeit in Berlin scheint es keine näheren Kontakte zwischen den Brüdern Grimm und Friedrich Rückert gegeben zu haben, obwohl man das Wirken des jeweils anderen sehr wohl kannte. So schrieb Jacob Grimm im Oktober 1814 aus Wien an seinen Bruder Wilhelm in Kassel: „Nicht zu vergessen, der Raimar Freimund [sic!] ist aus Schweinfurt in Franken und heißt Rückert, 27 Jahre alt.“

Geharnischte Sonette

Der Schweinfurter Dichter hatte im Herbst 1814 unter dem Pseudonym „Freimund Raimar“ in Heidelberg seine „Deutsche(n) Gedichte“ veröffentlicht, darunter auch die „Geharnischten Sonette“ über die Befreiungskriege gegen Napoleon, auf die sich Jacob Grimm hier bezieht. Mit diesem schmalen, nur 79 Seiten umfassenden Bändchen, gelang es Rückert, sich als Dichter einer größeren Leserschaft vorzustellen.

Aber auch Rückert hat sich über Jacob Grimm geäußert; im September 1819 schrieb er an seinen Vetter Emil Rückert (1800-1868) über Jacob Grimms „Deutsche Grammatik“ (Göttingen 1819): „Ich muß heute noch eine Portion Grimm verschlucken. Ich möchte um alles in der Welt gern wissen, was nur in der zweiten Auflage dieser unverbesserlichen Grammatik verbessert seyn mag?“

Aus ähnlichen Familienverhältnissen

Rückert und die Brüder Grimm entstammen ähnlichen Familienverhältnissen: Wie der Vater von Friedrich Rückert, Johann Adam Rückert (1763-1831), war auch der Vater der Grimms, Philipp Wilhelm Grimm (1751-1796), als „Amtmann“ tätig. Johann Rückert übernahm 1792 im nahe bei Schweinfurt gelegenen Oberlauringen dieses Amt, Philipp Wilhelm Grimm wurde 1791 Amtmann in Steinau a. d. Straße.

Sowohl Rückert als auch die Brüder Grimm erhielten zunächst in ihrem Kindheitsort eine schulische Grundbildung und besuchten anschließend eine weiterführende Schule: Jacob und Wilhelm Grimm ab 1798 das Lyceum Fridericianum in Kassel, Friedrich Rückert ab 1802 das Schweinfurter Gymnasium Gustavianum.

Nach Beendigung ihrer Schulzeit schrieben sich alle drei für das Studium der Jurisprudenz ein – in Marburg beziehungsweise Würzburg – begannen aber bald, sich intensiver mit Literaturen und Sprachen zu beschäftigen. Heute kaum noch vorstellbar, eignete sich Friedrich Rückert im Laufe seines Lebens mehr als 40 Sprachen an, darunter neben Arabisch, Persisch und Armenisch auch zahlreiche indische Sprachen und sogar Hawaiisch. Zwar beherrschten auch die Brüder Grimm zahlreiche Fremdsprachen, aber ihre Kenntnisse bezogen sich auf „nur“ etwa 15 Sprachen.

Persönliche Begegnungen zwischen den Grimms und Rückert sind ab Herbst 1841 nachzuweisen. Die Grimms waren im März 1841 in Berlin eingetroffen. Friedrich Rückert reiste am 3. Oktober 1841 zunächst noch ohne seine Familie nach Berlin, wo er – unweit der Wohnung der Brüder Grimm – eine „unerfreuliche Junggesellenwirtschaft“ pflegte. Schon vor Rückerts Amtsantritt hatten die Bedingungen, zu denen er in Berlin unterrichten sollte, Aufsehen erregt: Während ihm ein Gehalt von jährlich 3000 Talern und eine lebenslange Pension für seine Frau im Falle seines Ablebens zugesichert wurde, erhielten andere Geistesgrößen ein erheblich geringeres Salär. Jacob und Wilhelm Grimm gestand man ein gemeinsames Gehalt von zunächst 2000 Talern zu, das erst durch Nachverhandlungen Jacobs auf 3000 Taler erhöht wurde.

Vorlesungen nur im Wintersemester

Rückert genoss noch ein zusätzliches Privileg, denn er hatte sich ausbedungen, nur im Wintersemester in Berlin zu unterrichten – den Rest des Jahres verbrachte er auf seinem Gut in Neuses bei Coburg. Darüber wusste auch Wilhelm Grimm nach Rückerts „Antrittsbesuch“ bei ihm am 21. Oktober 1841 in einem Brief an den befreundeten Juristen Gustav Hugo (1764-1844) zu berichten: „Rückert, der in unserer nähe wohnt, hat mir ebenfalls wolgefallen, ein großer magerer mann, mit scharfen aber doch wolwollenden zügen. er ist unter allen neuberufenen, wie es scheint, am besten gestellt. den sommer auf seinem landsitz bei Koburg zuzubringen hat er sich ausgehalten, und sagte mir, er könne das gar nicht entbehren, habe das auch schon seit vier jahren so gehabt“.

Ein Gegenbesuch Wilhelm Grimms bei Rückert erfolgte am 25. Oktober, ohne dass er den Schweinfurter Dichter zuhause angetroffen hätte. Ein weiterer Besuch scheint aber am 1. Dezember 1841 stattgefunden zu haben. Luise Rückert zählt später in einem Brief vom 24. Dezember 1841 an ihren Sohn Heinrich (1823-1875) in Bonn die Brüder Grimm zu den „lieben Menschen“, mit denen sie in Berlin Umgang habe.

Rückerts Ankunft in Berlin zog weite Kreise. Die mit den Brüdern Grimm eng befreundete Bettine von Arnim (1785-1859) hatte ihre Meinung zu Rückert und äußerte sich in einem Brief an ihren Sohn Friedmund am 27. Oktober 1841 etwas mokant über die zahlreichen neuberufenen Professoren: „Hier spazieren alle Gelehrten im Tiergarten in der Mittagssonne und wandern mit stolzem Selbstbewußtsein an einander vorüber. […] Rückert ist auch hier eingerückt, ein höchst langbeiniger Kerl mit Hosen, die noch zum Wachsen eingerichtet sind; er war bei mir, über zwei Stunden, ein ganz guter Francke, aber nicht frank und frei von Eitelkeit, Selbstliebe, Verletzbarkeit …“. Das gesellige Berliner Leben bereitete sowohl den Grimms als auch Rückert so seine Schwierigkeiten. Einladungen an den königlichen Hof waren für Rückert ein Graus. An seine Frau Luise schrieb er im Januar 1846: „Doch das allergefährlichste steht mir noch bevor, nachdem ich alle Gefahr schon überstanden zu haben hoffte; nämlich vom Hofe. Neulich kam eine Einladung, und ich meldete mich krank. Aber den zweiten Tag kam Humboldt, um nachzusehn, was mir fehle und mir schmeichelhaftes Bedauern von beiden Majestäten zu sagen, die mich nun aber demnächst zu sehn hofften. Nun kann ichs freilich nicht mehr ablehnen, aber so werth mir ihre Theilnahme und Gnadenbezeugung ist, so wünschte ich doch, sie erließen mir die Tafel, wozu ich nicht tauge.“

Er scheint aber auch keine gute Figur bei Hofe abgegeben zu haben. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. soll einmal bei Tische auf ihn mit dem Satz hingewiesen haben: „[Der] breitschultrige Bauer, der da ein großes Stück Brot mit dem Ellenbogen auf dem Tisch verzehrt, das ist der Dichter!“ Aber auch Wilhelm Grimm beklagte sich über die ständigen Feste und Gesellschaften; im Dezember 1843 berichtete er davon seinem Bruder Ludwig Emil in Kassel, um abschließend festzustellen: „So wird es wohl den ganzen Winter durch gehen, im Sommer hat man etwas mehr Ruhe. […] Ich freue mich immer, wenn ich einen oder ein paar Abende ruhig zu Hause bleiben kann.“

Im März 1848 kehrte Rückert dem von ihm ungeliebten Berlin endgültig den Rücken und zog sich ganz auf sein Gut in Neuses zurück, wo er 1866 starb. Wilhelm Grimm war schon 1859, Jacob Grimm 1863 in Berlin verstorben. Heute erinnern zahlreiche Gedenkstätten und museale Einrichtungen an den Lebens- und Wirkungsorten Friedrich Rückerts und der Brüder Grimm an ihr Schaffen.

 
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