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WIEBELSBERG
Der unbekannte Olympionike
Der 28-jährige Kanute gewann bei den Weltspielen für geistig behinderte Menschen in Los Angeles Silber im Zweier
Olympiateilnehmer: André Walter mit der Silbermedaille, die er als Kanute im Zweiter von den Special Olympics aus Los Angeles mitgebracht hat.
Foto: Norbert Vollmann | Olympiateilnehmer: André Walter mit der Silbermedaille, die er als Kanute im Zweiter von den Special Olympics aus Los Angeles mitgebracht hat.
Norbert Vollmann
Norbert Vollmann
 |  aktualisiert: 02.09.2015 14:23 Uhr

Was ist schon normal? Jedenfalls nicht, in diesem Moment neben einem Olympiateilnehmer und Medaillengewinner aus Wiebelsberg zu sitzen. André Walter ist in der Tat ein Ausnahmeathlet und fährt als Kanute einen großen Erfolg nach dem anderen ein, auf nationaler wie internationaler Bühne. Nicht normal ist hingegen, dass den 28-Jährigen so gut wie keiner kennt. Das liegt daran, dass André kein „normaler“ Sportler in dem Sinne ist. Soeben hat er für Deutschland an den „Special Olympics World Games“, den Weltspielen für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung, teilgenommen.

Mit einer Silbermedaille und zwei vierten Plätzen im Gepäck ist er quasi hochdekoriert aus Los Angeles von den Weltspielen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung nach Wiebelsberg zurückgekehrt, um vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz nochmals zuhause auszuspannen. Derartige Erfolge sind nicht selbstverständlich, für André aber dank großem Fleiß und harter Trainingsarbeit inzwischen normal.

Mehr Aufmerksamkeit für Paralympics

Überhaupt: Wenn man sich mit ihm unterhält, wird man nicht einmal nur ansatzweise auf den Gedanken kommen, dass André wie sein Zwillingsbruder René behindert ist, wenn man es nicht wüsste. Umso mehr ist es nicht normal, dass es mittlerweile die Paralympics, die Spiele für Sportler mit körperlichen Einschränkungen, zu einer gewissen medialen Aufmerksamkeit gebracht haben, die Special Olympics aber immer noch ein Schattendasein fristen. Wie man an diesem Beispiel sehen kann, hat die Inklusion, also die Einbeziehung statt Ausgrenzung von Menschen mit Einschränkungen noch nicht überall stattgefunden.

Denn auch wenn der Sieg bei diesen Wettkämpfen nicht über allem steht, sondern allein schon die Freude, überhaupt dabei sein zu dürfen, so werden hier ebenfalls längst sportliche Höchstleistungen geboten. André Walter ist ein gutes Beispiel dafür. Auch darum möchte er deshalb kämpfen, nämlich seinen Sport und die Special Olympics mehr „nach außen zu tragen“, wie er sagt. Dazu müsse man „dranbleiben an der Sache“.

Dabei hat es das Leben mit ihm und seinem Zwillingsbruder zunächst wahrlich nicht gut gemeint. Beide kamen sie mit Hirnschädigungen auf die Welt. Gerade sieben Monate alt, kamen beide zu Pflegeeltern, die sie an Kindes statt annahmen. Vor vier Jahren zogen die Eltern der Ruhe wegen vom Würzburger Stadtrand an den Fuß der Weinberge in den beschaulichen, kleinen Oberschwarzacher Ortsteil Wiebelsberg.

Training im Urlaub

Hier nutzt André Walter zum Beispiel jetzt während seines Urlaubs die sportlichen Möglichkeiten rund um Gerolzhofen, um sich sportlich fit zu halten. Sei es beim Schwimmen, Paddeln, Radfahren oder Wandern in der Gegend. Sonst arbeitet der junge Mann seit fünf Jahren in der Tischlerei der Wohn- und Lebensgemeinschaft Richthof/Sassen im hessischen Schlitz. Gleich um die Ecke findet er im Fuldaer Kanu-Club als seiner sportlichen Heimat die idealen Voraussetzungen und Bedingungen für sein sportliches Weiterkommen.

Der Kanu-Club, bei dem er seit geraumer Zeit trainiert, unterstützte ihn auch bei der Vorbereitung für die Weltspiele tatkräftig. Neben Technikunterricht und Ausdauertraining durch verschiedene Trainer erhielt er so finanzielle Hilfe für die Anschaffung einer eigenen Ausrüstung durch den Hessischen Kanu-Verband und die Stadt Fulda. André Walters ganzer Stolz ist das vom Kanu-Club sowie durch privates Sponsoring finanzierte superleichte Karbon-Paddel.

Er betont: „Es war entscheidend für meine persönliche Bestleistung in Los Angeles.“ Besonders ausgezahlt habe sich auch das Extra-Training mit einem „normalen“ deutschen Kanumeister. André Walter: „Von diesen Leuten kannst Du eine Menge lernen.“

Der Kanu-Club Fulda widmet sich in besonderer Weise der sportlichen Ausbildung von Menschen mit Beeinträchtigung. Per Mitgliedsausweis haben sie André Walter und inzwischen auch sein Zwillingsbruder hier nicht nur Mitsprache-, sondern auch Wahlrecht. Vater Michael-German Hahn: „Das erfüllt beide schon mit Stolz.“

André Walter nimmt seit seiner Schulzeit an den Nationalen „Special Olympics“-Wettbewerben teil. Ursprünglich versuchte er sich als Leichathlet und als Badminton-Spieler. Knieprobleme führten dazu, dass er sich nach einer anderen Sportart umsah. So kam er zum Kanusport. Aus den Erfolgen etwa in Bremen, Düsseldorf, Kaiserslautern oder München resultierte seine erstmalige Nominierung für die 1968 von Eunice Kennedy-Shriver, der Schwester des US-Präsidenten John F. Kennedy, ins Leben gerufenen Weltspiele für Menschen mit geistiger Einschränkung in Los Angeles. Damit wurde für den Kanuten der Traum wohl eines jeden Sportlers wahr.

Sofort nach seiner Berufung in die deutsche Equipe für die „Special Olympics“ im vergangenen Jahr intensivierte André Walter sein Training. Selbst im Winter gab es keine Pause, sei es auf dem Wasser oder in der Halle. Und vor Amerika ging es dann von der Fulda auf den Rat der Trainer hin auf einen See, um die Schlagzahl zu erhöhen.

Zusammen mit 137 weiteren deutschen Athleten ging es nun Ende Juli endlich nach Los Angeles zu den Weltspielen für Menschen mit geistiger Behinderung. Dort war André einer von 7000 Athleten aus 165 verschiedenen Ländern, die in 26 verschiedenen Sportarten und Disziplinen vom Roller-Skating über Tennis bis zum Reiten antraten.

Seine Pflegeeltern unterstreichen: „Dies alles wird nur durch ein Netzwerk von inklusionswilligen Ausbildern, Betreuern, Eltern, Freunden, Geschwistern, Sponsoren, Teamkollegen und Trainern möglich, die dieses Leben mit Empathie begleiten.“ Aus übergeordneter Sicht geht es bei allem Stolz über André Walters sportliche Leistungen um Werte, wie Begegnung von Ich zu Ich, Gewahrwerden der anderen Individualität, Hilfe von Mensch zu Mensch, Verständnis für Leben und Leistung beeinträchtigter Mitmenschen oder die Bereitschaft zur Teilhabe am Miteinander vieler gesellschaftlicher Kräfte, um nur einige Beispiele zu nennen.

Schon der Hinflug von Frankfurt am Main nach Los Angeles mit dem Blick aus der Vogelperspektive auf Grönland war für André Walter ein fantastisches Erlebnis, wie er erzählt. Es war seine erste Flugreise überhaupt.

Beeindruckend waren für ihn die freundschaftliche Stimmung im deutschen Team, der positive Kontakt mit Sportlern aus anderen Nationen wie etwa aus Costa Rica, die Gastfreundschaft bei diversen Empfängen für das deutsche Aufgebot, die besondere Bekleidungskollektion sowie das Wettkampf-Outfit, der Einmarsch der Nationen bei der Eröffnungsfeier im Beisein von Präsidentengattin Michelle Obama, das Entzünden der Olympischen Flamme, die Polizei-Eskorte bei den Fahrten zwischen Quartier und Wettkampfstätten und auch das breit gefächerte Begleitprogramm in Los Angeles mit Ausflügen nach Hollywood oder ins Nasa-Kontrollzentrum in Pasadena.

Die Wettbewerbe auf der Kanustrecke seien mustergültig organisiert und die Zuschauertribünen trotz hoher Temperaturen stets voll besetzt gewesen, berichtet André Walter. Und auch das Bootsmaterial war hervorragend. Gefahren wurde in sogenannten Brijon-Booten, dem Porsche unter den Kanus. Unvergesslich wird für André nicht zuletzt die Zeremonie bei der Medaillenübergabe der Kanuten bleiben, wozu nochmals alle Wettkampfteilnehmer auf dem großen Sieger-Treppchen Aufstellung nahmen.

Die knappen Entscheidungen bei André Walters Starts belegen, dass die Leistungsdichte auch bei den Special Olympics immer dichter wird und die Weltspitze zusammenrückt. So hatten er und sein Partner Alexander Schneider beim Gewinn der Silbermedaille im Zweier nur zwei Zehntel Vorsprung vor den Bronzemedaillengewinnern. Im Einzel über 200 Meter belegte der 28-Jährige den vierten Platz.

Eine Erfahrung war für ihn das Rennen über 500 Meter im Einzel. Über diese Distanz ist er in Amerika zum ersten Mal angetreten, und auch hier belegte er den vierten Platz. André Walter: „Die 500 Meter sind nicht ohne. Nach 200 Metern habe ich lange Arme gekriegt.“ Auch darauf gilt es für ihn künftig beim Training zu reagieren.

Ein Manko sah André Walter darin, dass die offiziellen Rennzeiten und Platzierungen in Los Angeles erst am Tag darauf bekannt gegeben wurden, die Athleten somit lange auf die Folter gespannt wurden.

Besonders enttäuscht habe ihn jedoch die fehlende deutsche Übersetzung, wie bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier. So habe er vieles nicht verstanden von dem, was dort gesagt wurde. Dies war auch der Grund, weshalb sich die Kommentatoren nach der Siegerehrung auf ein „stummes“ Interview mit dem deutschen Medaillengewinner aus Franken beschränken mussten.

Mit dem Zwillingsbruder im Kanu

Ab Herbst 2015 bereitet sich André, der die Treffen mit Freunden und Bekannten wie überhaupt die Begegnung mit Menschen liebt, bereits auf die nächsten Nationalen Special Olympics Anfang Juni 2016 in Hannover vor.

Zuvor will er am 19./20. September erstmals mit seinem Zwillingsbruder René ein Zweier-Rennen bestreiten. Der ist inzwischen ebenfalls in den Kanusport eingestiegen, nachdem ihn die Folgen eines Kahnbeinbruchs längere Zeit daran gehindert hatten. André: „Ich trainiere ihn intensiv und versuche, ihn zu fördern.“ Und so sitzen beide nun bald in einem Boot. Für Zwillingsbrüder ist das aber irgendwie auch ganz normal.

Special Olympics

Special Olympics Deutschland (SOD) ist die deutsche Organisation der weltweit größten, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) offiziell anerkannten Sportbewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Schirmherrin ist Daniela Schadt, die Lebensgefährtin von Bundespräsident Joachim Gauck. Im Jahr 1968 von Eunice Kennedy-Shriver, einer Schwester von US-Präsident John F. Kennedy, ins Leben gerufen, ist Special Olympics heute mit nahezu vier Millionen Athleten in 170 Ländern vertreten.

Das Ziel von Special Olympics ist es, Menschen mit geistiger Behinderung durch den Sport zu mehr Anerkennung, Selbstbewusstsein und letztlich zu mehr Teilhabe an der Gesellschaft zu verhelfen. SOD versteht sich gemeinhin als Inklusionsbewegung.

Ein wirkungsvolles Praxisbeispiel für Inklusion ist Unified Sports. In Unified Teams treiben Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Sport, trainieren und nehmen an Wettbewerben teil, lernen voneinander und bauen gleichzeitig Barrieren und Grenzen im alltäglichen Umgang miteinander ab. novo

Olympiateilnehmer: André Walter mit der Silbermedaille, die er als Kanute im Zweiter von den Special Olympics aus Los Angeles mitgebracht hat.
Foto: Norbert Vollmann | Olympiateilnehmer: André Walter mit der Silbermedaille, die er als Kanute im Zweiter von den Special Olympics aus Los Angeles mitgebracht hat.
Andenken: der Athletenpass Andre Walters von den Special Olympics.
Foto: Norbert Vollmann | Andenken: der Athletenpass Andre Walters von den Special Olympics.
 
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