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GEROLZHOFEN
Der Tod seines in Gerolzhofen geborenen Bruders Walter weist Helmut Kohl den Weg nach Europa
Am 6. Mai 2002 trug sich Helmut Kohl („Promotor der Einigung Europas“), im Beisein von Bürgermeister Hartmut Bräuer, in das Goldene Buch der Stadt Gerolzhofen ein. Foto: Norbert Vollmann
| Am 6. Mai 2002 trug sich Helmut Kohl („Promotor der Einigung Europas“), im Beisein von Bürgermeister Hartmut Bräuer, in das Goldene Buch der Stadt Gerolzhofen ein. Foto: Norbert Vollmann
Norbert Vollmann
Norbert Vollmann
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:41 Uhr

Was wäre aus dem „neuen“ Europa ohne Gerolzhofen geworden? Sicher eine auf den ersten Blick provokant wirkende, aber durchaus berechtigte Frage, wenngleich mit tragischem Hintergrund. Denn auch wenn Helmut Kohl erst nach dem Wegzug seiner Familie aus Gerolzhofen 1930 in Ludwigshafen am Rhein zur Welt gekommen ist, so ist sein nachhaltiger Einsatz für die europäische Einheit und den Frieden in Europa im Tod seines 1944 gefallenen Bruders Walter zu suchen. Der war 1925 in Gerolzhofen geboren worden.

Der Tod des Bruders offenbart die ganze Sinnlosigkeit des Krieges

Der Tod seines geliebten Bruders führte Helmut Kohl die ganze Sinnlosigkeit des Krieges drastisch vor Augen und hatte nachweislich maßgeblichen Einfluss auf die politische Arbeit des jetzt im Alter von 87 Jahren verstorbenen späteren Bundeskanzlers von 1982 bis 1998 als Architekt der Europäischen Einigung gehabt.

Wenn Helmut Kohl am 1. Juli als erster Europäer vor seiner Beisetzung in Speyer mit einem europäischen Trauerakt im EU-Parlament in Straßburg geehrt wird, ist der Einfluss, den der Verlust seines Bruders auf ihn ausgeübt hat, deshalb ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt.

In Gerolzhofen, wo die junge Familie Kohl von Mai 1921 bis März 1929 lebt, kommt 1922 als erstes Kind der Familie auch Helmut Kohls 2003 verstorbene Schwester Hildegard zur Welt.

Vom Militär ins Finanzamt Gerolzhofen

Helmut Kohls Vater Johann Kaspar Kohl (1887-1975), Hans gerufen, stammt aus einer bäuerlichen Familie mit elf Kindern im unterfränkischen Greußenheim westlich von Würzburg. Nachdem der elterliche Bauernhof durch einen Brand zerstört wird, kommt er zunächst bei einem Müller unter.

Im Alter von 19 Jahren entschließt er sich, zum Militär zu gehen und eine Laufbahn in der Königlich bayerischen Armee einzuschlagen. Er kommt 1906 in ein Regiment in Landau an der Pfalz und wird Berufssoldat.

Kampf an allen Fronten im Ersten Weltkrieg

Im Ersten Weltkrieg erfährt er von 1914 bis 1918 in mehreren Abschnitten der Westfront in Frankreich den Krieg in seiner ganzen Brutalität. Bei Kriegsende ist Hans Kohl Kompanieführer einer Transporteinheit im Rang eines Oberleutnants.

Im Zuge der Abrüstung der Armee wechselt Hans Kohl in die Bayerische Finanzverwaltung. Kurz vorher heiratet der „Feldwebel-Leutnant und Adjutant“ 1920 die aus dem Ludwigshafener Ortsteil Friesenheim stammende Cäcilie Schnur (1891-1979). Die Tochter eines Schulleiters und Oberlehrers hat er schon während seines Militärdienstes am Regimentsstandort in Landau kennen- und liebengelernt.

Ab 1921 wohnen die Kohls in Gerolzhofen

Seine erste Stelle als Steuerassistent wird ihm am Finanzamt in Gerolzhofen zugewiesen. Die Kohls wohnen ab 1921 zur Miete in dem großen weißen Haus mit dem markanten Eckturm in der Dreimühlenstraße, gegenüber der Erlöserkirche, das der Landmaschinenfabrikant Richard Wagner dort errichtet hat. Hans Kohl setzt sich in seiner Zeit in Gerolzhofen vor allem als Leiter der Sanitätskolonne für die Allgemeinheit ein.

Versetzung in die Pfalz

Nachdem Wagner in die ehemalige Maschinenfabrik Wagner & Herbert direkt am Bahnübergang in der Frankenwinheimer Straße zurückkehrt, erwirbt im Jahr 1927 die Familie Nikolaus Pfister senior das 2004 dem Parkplatz-Bau für den Rewe-Markt in der Dreimühlenstraße der Spitzhacke zum Opfer gefallene Haus, um darin Kfz-Werkstatt, Fahrschule und Fuhrunternehmen unterzubringen. Bis 1929 sind die Kohls noch Untermieter bei Pfister.

Dann stirbt Cäcilie Schnurs Vater Josef. Hans Kohl erreicht zum März 1929 die Versetzung als Finanzbeamter der mittleren Laufbahn in die pfälzische Heimat seiner Frau, zunächst ans Finanzamt in Frankenthal bei Ludwigshafen, dann direkt an das in Ludwigshafen. Die Familie zieht mit ins Elternhaus der Schnurs in der Hohenzollerstraße 89 in Friesenheim. Von hier ist es nicht weit zum riesigen Areal der BASF.

Kurz nach dem Wegzug wird Helmut Kohl geboren

In Ludwigshafen wird Helmut Kohl am 3. April 1930 als Nachzügler im städtischen Krankenhaus geboren. Seine Mutter ist zu diesem Zeitpunkt schon über 38 Jahre alt.

In Friesenheim wächst Helmut Kohl mit seinen beiden in Gerolzhofen geborenen Geschwistern Hildegard und Walter auf.

Das besondere Verhältnis Helmut Kohls zu seinem älteren Bruder

Ein besonders gutes Verhältnis verbindet ihn mit seinem älteren Bruder Walter. Er ist für ihn, wie Helmut Kohl später in seinen Memoiren schreibt, anders als seine noch viel ältere Schwester, lange Jahre auch ein wichtiger Spielkamerad. Der junge Helmut Kohl muss seinen Bruder jedenfalls sehr geliebt und verehrt haben.

Das jähe Ende der unbeschwerten Kindheit

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit dem Überfall Adolf Hitlers auf Polen am 1. September 1939, sorgt für ein abruptes Ende der bis dahin ungetrübten Kindheit von Hildegard, Walter und Helmut. Zunächst ist da die Sorge um den Vater.

Mit Kriegsausbruch wird Hans Kohl, Frontoffizier im Ersten Weltkrieg, als Oberleutnant zu den Waffen gerufen. Er ist erst in Polen und dann in Frankreich stationiert. 1943 wird er aus Gesundheitsgründen aus der Wehrmacht entlassen.

Es ist das Jahr, in dem Helmut Kohls Bruder Walter als Fallschirmjäger zum Militärdienst eingezogen wird.

Nach dem Rückzug der Wehrmacht aus Frankreich gehört Ludwigshafen wieder zum Hinterland des Westwalls. Ständige Luftangriffe machen einen geordneten Schulbetrieb unmöglich. Im Oktober 1944 muss auch Helmut Kohl zur Kinderlandverschickung. In diesen Wochen trifft er nochmals mit seinem Bruder Walter zusammen, der sich in Bad Ems im Lazarett aufhält.

Kurz nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, wo er die ganze personelle und materielle Übermacht der Alliierten erfahren musste, war er an der Invasionsfront schwer verwundet worden.

Walter Kohls Abschiedsworte

Bevor er nach der Genesung und einem kurzen Heimaturlaub wieder zurück in den Krieg muss, ist er noch kurz auf Heimaturlaub nach Hause gekommen. Es sollte ein Abschied für immer sein. Kurze Zeit später ist Walter Kohl tot, wie viele andere hoffnungsvolle junge Menschen den Heldentod gestorben „für Führer, Volk und Vaterland“.

„Ich komme nicht wieder“

Der 14-jährige Helmut Kohl hatte seinen Bruder, als dieser nach wenigen Tagen wieder zurück in den Krieg musste, sehr früh am Morgen zur ganz in der Nähe des Elternhauses gelegenen Straßenbahnhaltestelle begleitet. Als sein Bruder einsteigt, dreht er sich noch einmal um und sagt plötzlich und ohne jede Vorwarnung: „Pass' auf Dich auf, ich komme nicht wieder. Und kümmere Dich vor allem um Mama.“ Diese letzten Worte hat Helmut Kohl nie vergessen, wie er später mehrfach betonte.

Als Walter Kohl zu seiner Einheit zurückfährt, wird der Zug am 19. November 1944, einem Sonntag, auf dem Verschiebebahnhof in Haltern am See, einer Stadt im Kreis Recklinghausen in Westfalen, von Tieffliegern angegriffen. Eines der Jagdflugzeuge wird abgeschossen und reißt beim Aufprall eine Starkstrom-Oberleitung mit sich. Der herabstürzende Mast verletzt Walter Kohl tödlich.

Die erschütternde Todesnachricht

Der Tod seines Bruders sei für seine Familie, also vor allem für seine Eltern, seine Schwester und ihn ein schwerer Schock gewesen, so Helmut Kohl später. Der Moment, als die Familie die furchtbare Nachricht ereilt, blieb fest in seinem Gedächtnis verankert. Er berichtete: „Ich saß gerade auf dem Dach unseres Hauses, das nach einem Fliegerangriff wieder einmal ziemlich beschädigt war. Zusammen mit zwei Freunden reparierte ich den Schaden, als der Postbote den Brief mit der Todesnachricht brachte. Meine Tante rief durch das ganze Haus: Walter ist gefallen!“.

Immer wieder wird er später diese traumatische Erfahrung erwähnen. Der frühe Tod seines von ihm verehrten Bruders Walter war eines der einschneidendsten Ereignisse in der Jugend Helmut Kohls.

Wann immer er am Grab seines gefallenen Bruders im gesonderten Gräberfeld für Gefallene des Zweiten Weltkrieges auf dem Katholischen Friedhof St. Sixtus in Haltern gestanden habe, sei ihm vieles durch den Kopf gegangen, vor allem aber die Sinnlosigkeit des Krieges, gab Helmut Kohl später preis.

Helmut Kohls Friedens-Versprechen

Sein gefallener Bruder hatte für Helmut Kohl eine herausragende Bedeutung. Als er seiner Mutter erklärt, deshalb seinen ersten Sohn Walter nennen zu wollen, fragt diese bestürzt, ob er damit nicht das Schicksal herausfordere. Daraufhin habe er seiner Mutter versprochen, dass sein Sohn nicht in einem Krieg zwischen europäischen Staaten sterben werde, so Helmut Kohl in seinen Memoiren.

Auch Helmut Kohls Schwester Hildegard kommt in Gerolzhofen zur Welt

Seine Schwester Hildegard wird am 18. März 1922 von Cäcilie Kohl im Wagner‘schen Haus, dem damaligen Anwesen mit der Hausnummer 490, später Dreimühlenstraße 5, entbunden. Sie wird später Fremdsprachenkorrespondentin, arbeitet bei der Firma BASF und heiratet einen Ingenieur namens Getrey.

Hildegard Getrey, geborene Kohl, stirbt nach einem schweren Krebsleiden im September 2003 im Alter von 81 Jahren in ihrem Haus in St. Ingbert im Saarland. Am Sterbebett sitzt auch ihr Bruder Helmut.

In diesem 2004 abgerissenen Haus in der Dreimühlenstraße lebten Helmut Kohls Eltern von 1921 bis 1929 in Gerolzhofen. Hier kamen seine Geschwister zur Welt.
Foto: Stadtarchiv | In diesem 2004 abgerissenen Haus in der Dreimühlenstraße lebten Helmut Kohls Eltern von 1921 bis 1929 in Gerolzhofen. Hier kamen seine Geschwister zur Welt.
 
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