Mit Grenzerfahrungen zwischen Spiritualität und Wissenschaft beschäftigt sich Professor Dr. Dr. Wilfried Kuhn, Chefarzt der Neurologischen Klinik im Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt, seit über 20 Jahren. 1977 hat er das Buch „Das Leben nach dem Tod“ von Raymond Moody gelesen. Thema: Nahtoderfahrungen. Menschen, die klinisch tot waren und wiederbelebt wurden, erzählen von ihren Erlebnissen. Vom Glück, durch den Tunnel zum Licht zu gehen. Von Verstorbenen, die sie begleitet haben. Diese Menschen haben sich selbst auf dem OP-Tisch liegen sehen, beobachtet, wie die Ärzte um ihr Leben kämpfen. Und sie sind zurückgekehrt, weil ihre Lebensaufgabe nicht erfüllt war. Esoterischer Quatsch, medizinisch erklärbare Halluzinationen und Hirnprozesse, sagen Skeptiker. Für Kuhn sind Nahtoderfahrungen ein Indiz, dass Bewusstsein ohne Materie existieren kann. Sie können seiner Meinung nach neurobiologisch nicht vollständig erklärt werden.
Frage: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Wilfried Kuhn: Ja, auf jeden Fall. Wobei ich das nicht alleine auf das Phänomen Nahtoderfahrung zurückführen möchte. Objektiv ist das kein Beweis für ein Weiterleben nach dem Tod. Subjektiv ist das schon ein indirekter Hinweis, dass der physische Tod nicht das Ende ist, dass es was gibt, das darüber hinausgeht. Es gibt aber auch Berichte von medial veranlagten Menschen, die im Auftrag von Lebenden Kontakt mit Verstorbenen aufnehmen. Da kommen sehr faszinierende Dinge heraus. Zudem gibt es eine Reihe von Nahtodkontakten, die auch schon wissenschaftlich untersucht worden sind. Hier liegen zahlreiche Berichte und Studien vor.
Sie halten Vorträge zum Thema Nahtoderfahrungen. Erzählen Ihnen die Menschen von ihren Erlebnissen, oder trauen sie sich nicht?
Kuhn: Bei der offiziellen Fragerunde trauen sich wenige. Aber im persönlichen Gespräch nach dem Vortrag schon. Ich habe Menschen kennengelernt, die nicht nur über Nahtoderfahrungen sprechen, sondern auch über Kontakte mit Verstorbenen. Es gibt einerseits Erscheinungen, Visionen, die zum Beispiel dazu führen, dass jemand vor einem Unglück gewarnt wird, ebenso jedoch einfache Mitteilungen wie „Es geht mir gut“. In den westlichen und östlichen Weisheitslehren gibt es auch sehr viele Hinweise, die vom westlichen Mainstream-Denken, zum Beispiel in Kirche und Wissenschaft, ignoriert oder nicht akzeptiert werden. All das führt dazu, dass ich sage: Ich glaube an ein Leben nach dem Tod.
Ungewöhnlich für einen Naturwissenschaftler.
Kuhn: Ja, bis ich 40 war, war ich immer noch skeptisch. Ich habe versucht, mich mit verschiedenen Quellen zu überzeugen: Im Laufe der Jahre hat die Gewissheit über eine transzendente Wirklichkeit zugenommen. Aber das ist mit Sicherheit nicht gleichzusetzen mit jemandem, der eine persönliche Nahtoderfahrung gemacht hat.
Ab und an wird ja auch mal ein wissenschaftlicher Skeptiker bekehrt. Wie der Neurochirurg Eben Alexander, Professor in Harvard. Er lag sieben Tage im Koma, berichtet in seinem Buch „Blick in die Ewigkeit“ von seiner Reise in eine andere Dimension.
Kuhn: Ja, Dr. Eben Alexander hat sich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ein sehr persönlicher, faszinierender Bericht.
Alexander schreibt: Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass der Tod des Körpers und des Gehirns nicht das Ende des Bewusstseins ist – dass die menschliche Erfahrung übers Grab hinausgeht. Sie haben bei einem Vortrag mal gesagt: Nahtoderfahrungen sind der Stachel im Fleisch des materialistischen Weltbilds. Geist, Bewusstsein kann also losgelöst von Materie existieren?
Kuhn: Das Bewusstsein muss unabhängig von der Materie sein. Nahtoderfahrungen treten häufig bei Menschen auf, deren Gehirn nicht mehr funktioniert. Trotzdem erleben diese Menschen ein klares, überwaches Bewusstsein. Dieses Paradoxon spricht auch gegen die Theorie, diese Erlebnisse seien nur Halluzinationen.
Ich war immer furchtbar schlecht in Physik. Als Enterprise-Fan bin ich Quantenphysik nähergekommen. Stichwort Nicht-Lokalität. In einem Raum, in dem Zeit und Distanz keine Rolle spielen, in dem es keine Materie gibt, können Teilchen über eine große Entfernung hinweg augenblicklich aufeinander einwirken. So hat das der Kardiologe Pim van Lommel, der Nahtoderfahrungen erforscht, in einem Interview erklärt. Anders formuliert: Kann die moderne Physik etwas erklären, was Religionen seit Jahrtausenden lehren?
Kuhn: Generell ist es so, dass das neurobiologische Weltbild ein überholtes Weltbild ist. Es ist ein Weltbild der klassischen Physik. seitdem wurde die Relativitätstheorie entwickelt, vor allem aber die Quantentheorie. Das Bewusstsein ist nach materialistischem Verständnis nicht erklärbar. Vielleicht kann die Quantentheorie zur Lösung dieses Phänomens mehr beitragen als die klassische Physik, da die Interaktion von Bewusstsein und Materie dabei eine wesentliche Rolle spielt. Man weiß bis heute nicht, wie Bewusstsein durch Zellen erzeugt werden kann, wie das ja postuliert wird. Man geht aber dogmatisch wissenschaftlich davon aus, dass es so sein muss. Nahtoderfahrungen zeigen aber, dass bestimmte Vorstellungen der Neurobiologie doch nicht richtig sind. Es gibt dogmatische Kollegen, die sagen, die Nahtoderfahrung kann neurobiologisch erklärt werden. Absterbende Neuronen feuern, Sauerstoffmangel im Gehirn sorgt für Halluzinationen. Das sind Erklärungen, aber es sind keine Beweise. Es gibt inzwischen zahlreiche Erkenntnisse, die den Schluss zulassen: Die Nahtoderfahrung kann neurobiologisch nicht vollständig erklärt werden.
Zum Beispiel, dass jemand, der blind geboren wurde, Gebäude, Zimmer beschreibt? Jemand Gespräche, Situationen wiedergibt, die er eigentlich nicht mitkriegen konnte, weil er klinisch tot war?
Kuhn: Wissenschaftler ignorieren das. Die überprüften Fälle reichen ihnen nicht. Pim van Lommel hat mal so schön gesagt, hätten wir zehn Fälle, würden meine Kollegen hundert einfordern. Gibt man zu, dass Nahtoderfahrungen keine Halluzinationen sind, würde man ein parapsychologisches Phänomen anerkennen. Ich kenne seit 40 Jahren die Argumente der Skeptiker. Es gibt immer wieder Menschen, die sagen, das gibt es doch gar nicht. Es wird immer Menschen geben, die alles anzweifeln. Auch deswegen, weil die meisten auf ganz anderer Ebene argumentieren, zum Beispiel in Internet-Diskussionen. Die haben kaum etwas gelesen, kennen sich nur oberflächlich aus, haben ein materialistisches Weltbild. Wer sich intensiv mit der speziellen Materie beschäftigt hat, auch als Naturwissenschaftler, sagt eher: Da könnte es doch noch etwas geben. Oder: Wir können das noch nicht ganz erklären.
Wenn wir davon ausgehen, dass das Bewusstsein den Körper überlebt – müsste es dann so etwas geben wie ein großes, kollektives Bewusstsein? Eine Masse aller Erfahrungen und Erlebnisse?
Kuhn: Wenn man liest, wie Dr. Eben Alexander seine Nahtoderfahrung schildert, bekommt man einen Eindruck, wie das sein könnte. Er spricht von Wissen, das sofort da ist, von vielen Welten. Das Bewusstsein der Nahtoderfahrung geht weit über das irdische Bewusstsein hinaus. Dr. Alexander vermutet, das Gehirn ist ein Filter. Wir nehmen nur einen Teilaspekt wahr, heruntertransformiert auf unsere Realität. Aber das eigentliche Bewusstsein, das zeigt die Nahtoderfahrung, ist etwas weit Fantastischeres. Das paradoxe Bewusstsein einer Nahtoderfahrung ist nicht zu erklären: Wie kann jemand, dessen Hirn heruntergefahren ist, das nicht richtig durchblutet ist, so ein klares, helles Bewusstsein erfahren, das weit über das irdische Bewusstsein an sich hinausgeht, sogar Raum und Zeit überwinden kann?
Die Nahtoderfahrungen sind geprägt von Glücksgefühlen, dem Gefühl, keine Angst vor dem Tod haben zu müssen. Gibt es auch Schilderungen von Menschen, die in eine negative Welt gehen? Ich will jetzt nicht von der Hölle reden . . .
Kuhn: Es gibt tatsächlich auch solche Fälle. Die amerikanische Ärztin Barbara Rommer hat sich damit beschäftigt. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass diese Erfahrungen für die Menschen letztendlich auch positiv waren. Sie waren zwar zuerst erschrocken, haben dann aber Impulse bekommen, ihr Leben positiv zu ändern.
Sein Leben zu ändern, sich neu zu orientieren – ist das die Regel nach einer Nahtoderfahrung?
Kuhn: Ja. Eine solche Erfahrung hat oft transformatorischen Charakter, beeinflusst die Menschen nachhaltig. Viele werden spirituell.
Was können wir, die wir keine Nahtoderfahrungen haben, daraus lernen? Liegt da eine Botschaft für uns alle: Wir brauchen keine Angst vor dem Tod zu haben?
Kuhn: Kenneth Ring, der bekannteste Nahtodforscher der USA, spricht von einem Geschenk transzendenter Ebenen an die Menschen, die daraus lernen können, die Wirklichkeit und ihr Leben besser zu verstehen. In den letzten zehn Jahren sind so viele Berichte und Bücher erschienen, viele Menschen trauen sich, über ihre Erlebnisse zu reden. Auch wenn die Wissenschaft im Moment noch behauptet, das ist doch erklärbar, zeigt die zunehmende Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem Thema, dass die Menschen der Wissenschaft nicht mehr so recht trauen. Sie fragen sich, ob unser Weltbild vielleicht nicht doch anders ist, als wir uns das vorstellen. Die Menschen sehen doch, dass viele wissenschaftliche Vorstellungen auch nur Theorien und Hypothesen sind. Dass es noch andere Erklärungsmöglichkeiten gibt.
Man kann ein Gehirn aufschnippeln, untersuchen, sich die einzelnen Neuronen anschauen. Aber man weiß deswegen nicht, wie Geist funktioniert, oder?
Kuhn: Genau. Man kann Verbindungen sehen, einiges erklären, aber es gibt Bereiche, die nicht vollständig erklärbar sind. Es gibt immer mehr Menschen, auch Philosophen, die sich kritisch mit der Neurobiologie auseinandersetzen. Neurobiologen behaupten, wenn das Gehirn tot ist, dann gibt es nichts mehr. Das Schlimme daran ist, dass diese Vorstellung mit einer Absolutheit wiedergegeben wird, als wäre das bewiesen. Aber ich glaube, dass die Menschen doch so klug sind, dass sie sich fragen, ob das wirklich stimmt? Es gibt keine Beweise dafür, das ist einfach nur eine dogmatische Vorstellung. Das führt mich zum Thema Wissenschaft und Materialismus. Wissenschaft als Methode ist gut, Wissenschaft kann sich auch mit dem Jenseits beschäftigen. Wissenschaft schließt das Jenseits nicht aus. Nur der Materialismus sagt, dass es das eben nicht geben kann. In den Köpfen vieler wird Materialismus und Wissenschaft gleichgesetzt.
Vielleicht braucht es einen neuen Studiengang: Neurophilosophie.
Kuhn: Es gibt an den Unis einige, die sich mit neurophilosophischen Fragen beschäftigen. Aber das Tabu des naturwissenschaftlichen Dogmas ist so stark, dass man nur Kopfschütteln erntet, wenn man unter akademischen Kollegen andere Ideen äußert, oder gemieden oder lächerlich gemacht wird.
Der Tod ist nicht das Ende, ein tröstlicher Gedanke. Egal, wie das aussehen mag. Aufgehen in einem großen Bewusstsein, zum Beispiel.
Kuhn: Das ist ein buddhistischer Gedanke. In der christlichen Vorstellung bleibt Gott über dem Menschen. Das stellt sich jeder anders vor.
Nahtoderfahrung
Vier Millionen Menschen in Deutschland haben mindestens einmal nach einem Unfall, bei schwerer Krankheit, bei der Geburt oder ganz spontan ein außergewöhnliches Erlebnis, das ihr weiteres Leben mit prägt. Zu den häufigsten Kennzeichen einer Nahtoderfahrung gehören: Schwebeerlebnis mit Beobachtung des eigenen Körpers, Lichtvision, oft personalisiert und am Ende des Tunnels, außerordentliche Glücksgefühle, Lebensfilm, Begegnung mit bereits verstorbenen Verwandten, Enttäuschung über die „Rückkehr“ in den kranken Körper, verändertes Leben ohne Angst vor dem Tod (Quelle: Netzwerk Nahtoderfahrung).
Wilfried Kuhn wurde 1952 in Würzburg geboren. Nach Chemie studierte er Medizin, es folgte die Facharztausbildung in Neurologie und Psychiatrie, 1989 Habilitation für das Fach Neurologie an der Universität Würzburg.