Vorsichtig öffnet sie die Türen des Inkubators, schiebt ihre Hände hinein und legt dem winzigen Geschöpf sanft eine Hand auf den Rücken. „Hallo“, begrüßt Nadine Stoike mit leisen Worten das Frühgeborene und streichelt es behutsam. Knapp über 1000 Gramm wiegt das Mädchen heute, das vor zwei Wochen in der 28.
Schwangerschaftswoche auf die Welt kam. Seitdem kümmern sich die Schwestern der Kinderintensivstation des Leopoldina Krankenhauses in Schweinfurt rund um die Uhr um das winzige Kind. Deutschlandweit werden laut Bundesverband „Das frühgeborene Kind e.V.“ jährlich etwa rund 60 000 Kinder zu früh geboren. Demnach ist jedes zehnte Neugeborene ein Frühchen.
Für Nadine Stoike ist der Umgang mit den auch „unreif geboren“ genannten Kindern Alltag. Nach der ersten Berührung wartet Stoike geduldig, bis das kleine Mädchen mit einer Bewegung auf sie reagiert. „Ich bereite sie so darauf vor, dass jetzt gleich etwas passiert“, erklärt sie. Auf dem mobilen Wickeltisch neben sich hat die gelernte Kinderkrankenschwester bereits alles für die morgendliche Versorgung vorbereitet, darunter warmes Waschwasser und neue Elektroden. Alle sechs Stunden werden die Kleinen gewickelt, die Betten neu gemacht und der Brutkasten geputzt. „Hygiene ist unser oberstes Gebot“, sagt Stoike, die sich für jeden Gang an eines der Betten einen neuen Einweg-Kittel anziehen muss. „Wenn etwas auf den Boden fällt, schmeißen wir es weg."
Weiterbildung gefragt
Die junge Frau, die zuerst eine Ausbildung zur Arzthelferin machte, ist bereits seit drei Jahren auf der Kinderintensivstation des Leopoldina Krankenhauses beschäftigt. Nach eineinhalb Jahren Berufserfahrung entschied sie sich dazu, eine Weiterbildung zur Fachkinderkrankenschwester für pädiatrische Intensivpflege und Anästhesie zu machen. Nach zwei Jahren berufsbegleitender Ausbildung und theoretischem Blockunterricht wird sie im kommenden April die Weiterbildung zur Intensivpflege abschließen.
„40 Prozent der Angestellten auf der Station müssen diese Weiterbildung haben“, erklärt Karina Wiegler-Schenkel, Leiterin der Kinderintensivstation. Die Weiterbildung umfasst nicht nur die Pflege von Frühgeborenen, die Teilnehmer lernen auch den Umgang mit Patienten bis zu einem Alter von 18 Jahren. 24 Betten hat die Kinderintensivstation des Leopoldina zur Verfügung. 20 von ihnen sind für Früh- und Neugeborene vorgesehen, vier für ältere Kinder und Jugendliche. Bei 1500 Geburten jährlich im Haus haben die sechs Ärzte, zwei Oberärzte und 29 Vollzeitkräfte auf der Kinderintensivstation alle Hände voll zu tun.
„30 bis 40 Frühchen werden jedes Jahr bei uns geboren“, sagt Oberarzt Hans-Martin Lode. Auf der Intensivstation werden jedoch rund 350 Früh- und Neugeborene pro Jahr behandelt. Der Grund: Das St.-Josefs-Krankenhaus in Schweinfurt und die beiden Kliniken in Haßfurt und Bad Neustadt besitzen keine eigene Kinderintensivstation. Kommt hier ein Frühchen zur Welt, heißt es im Leopoldina „Jetzt aber schnell!“. Samt Transportinkubator machen sich dann ein Oberarzt und eine Intensivkinderkrankenschwester im Krankenwagen auf den Weg, um den kleinen Patienten abzuholen.
Große Verantwortung
Dieses Prozedere kennt auch Nadine Stoike. Für sie ist heute jedoch ein „relativ ruhiger Tag“. Mit drei Kindern ist sie voll ausgelastet. Als das kleine Mädchen unter ihrer Hand mit einem fast unmerklichen Zucken der Beinchen reagiert, kann sie mit der Pflege loslegen. Die junge Frau befestigt zuerst ein winziges Blutdruckmessgerät am schmalen Arm des Kindes. Das Gerät ist direkt mit einem Monitor oberhalb des Inkubators verbunden, auf dem dank Elektroden dauerhaft die Anzahl der Atemzüge pro Minute, die Sauerstoffsättigung des Blutes und der Puls des Babys überwacht werden.
Während die Kinderkrankenschwester das kleine Mädchen wickelt, wäscht, wiegt und Haut und Bäuchlein kontrolliert, wird sie immer wieder von einem Warnsignal unterbrochen. Sinkt ein Wert des Kindes bedrohlich ab, gibt der Monitor einen Piepton von sich und blinkt rot. Immer wieder muss sie deshalb einen Blick auf den Bildschirm werfen und beobachten, ob sich der Wert wieder stabilisiert. Die Fähigkeit, nicht sofort in Panik zu geraten, hat sie sich im Laufe der Zeit erarbeitet. „Es dauert ungefähr ein Jahr, bis man eine gewisse Sicherheit entwickelt hat“, erinnert sie sich zurück. Dennoch stellt jedes Verlassen des Raumes ein Risiko dar. Um die Kinder dauerhaft überwachen zu können, gibt es neben einem zentralen Monitor im Eingangsbereich deshalb weitere Monitore im Pausenraum.
Hilfe beim Start ins Leben
Während Nadine Stoike in der Frühstückspause „ihre“ drei Babys via Monitor wachsam im Auge behält, erhält Oberarzt Hans-Martin Lode einen wichtigen Anruf. So schnell wie möglich, macht er sich auf den Weg in den Erstversorgungsraum der Entbindungsstation drei Stockwerke tiefer. Dort angekommen bezieht er gemeinsam mit einer Kinderkrankenschwester und mit warmen Handtüchern bewaffnet unter einem Wärmestrahler Stellung, denn jedes Kind, das per Kaiserschnitt zur Welt kommt, wird zuerst von einem Kinderarzt und einer Intensivschwester untersucht.
Dem kleinen Jungen, der ein paar Minuten später von der Hebamme in den Raum gebracht wird, geht es gut. Damit er auch den letzten Rest Fruchtwasser aus seiner Lunge presst, bekommt er den Rücken massiert, um ihn noch etwas zum Schreien zu animieren. Während Kinder wie er, die rund um den errechneten Geburtstermin geboren werden, meist sofort mit den Eltern nach Hause gehen dürfen, sieht es bei den Frühchen anders aus. Bei einer Geburt ab der 24. Schwangerschaftswoche werden die Babys auf die Kinderintensivstation gebracht und versorgt.
„90 Prozent dieser Kinder überleben, müssen allerdings später mit leichten bis mittelschweren Einschränkungen rechnen“, sagt Oberarzt Lode. Diese reichen von einer Lernschwäche bis hin zu völliger Blindheit. Der Grund: „Die Kinder werden außerhalb des Mutterleibs Reizen ausgesetzt, die ihr Gehirn zum Teil nicht verarbeiten kann“, so Lode. Zwar seien ab der 13. Schwangerschaftswoche alle Organe vorhanden, die Entwicklung aber noch lange nicht abgeschlossen. Während sich zwischen der 22. und 24. Woche erst die Vorstufe der Lungenbläschen entwickelt, weist das Gehirn in der 22. Woche in den meisten Fällen noch nicht einmal Furchen auf.
Drei Stockwerke höher kümmert sich Nadine Stoike währenddessen um die zweite Mahlzeit, seit sie um 6 Uhr die Frühschicht begonnen hat. Ebenfalls vor 14 Tagen auf die Kinderintensivstation gekommen ist ein kleiner Junge. In der 31. Schwangerschaftswoche geboren, wiegt er schon deutlich mehr als seine Nachbarin, wird allerdings immer noch teilweise über eine Magensonde ernährt und liegt in einem Inkubator. Nachdem Stoike den Kleinen versorgt hat, notiert sie genau, wie viel Milliliter er getrunken und welche Medikamente er zuvor bekommen hat. „Kurven schreiben“ nennen es die Intensivkinderkrankenschwestern. Am Ende enthält die Tabelle auf dem riesigen Klemmbrett jede noch so kleine Information zu den winzigen Patienten.
Liebe zum Beruf
Doch nicht jeder Tag verläuft so glimpflich wie der heutige. „Es gibt auch belastende Tage“, sagt Karina Wiegler-Schenkel, „Wenn man zum Beispiel seit vier Wochen um ein Kind gekämpft hat und es dann doch verliert.“ Dann helfe es besonders, im Team offen darüber zu sprechen. Auch Oberarzt Hans-Martin Lode gibt viel auf die Teamfähigkeit seiner Kollegen: „So eine Station ist ein hochkomplexer Mechanismus, der jeden Tag am Laufen gehalten werden muss. Das fordert viel kommunikative Kompetenz und Teamwork.“
In diesem Jahr haben es bisher alle Frühchen aus dem Leopoldina Krankenhaus bis nach Hause geschafft. Und obwohl man über die Zeit eine emotionale Bindung aufbaue, überwiege doch das Glücksgefühl, wenn ein Baby gemeinsam mit seinen Eltern den Heimweg antreten kann, so Wiegler-Schenkel. Nadine Stoike kann sich keinen spannenderen Beruf vorstellen: „Man steht jeden Tag auf und weiß nicht, was heute kommt.“ Vor allem die Interaktion mit den Eltern bereitet ihr viel Freude, sei es das gemeinsame Wickeln oder der Moment, wenn sie das Baby für die Kuschelzeit auf die nackte Brust der Eltern legt.
Der generalistischen Pflegeausbildung, die ab 2020 mit dem Pflegeberufereformgesetz in Kraft treten soll, stehen sowohl Stoike als auch Wiegler-Schenkel und Lode kritisch gegenüber. „Ein Jahr reicht meiner Meinung nach nicht aus, um sich zu spezialisieren“, sagt Nadine Stoike im Hinblick auf die gemeinsame zweijährige Grundausbildung aller Pflegeberufe mit anschließender einjähriger Spezialisierung. Auch Karina Wiegler-Schenkel bezweifelt, dass „200 geplante Praxis-Stunden in drei Jahren“ ausreichend sind. Bei einem sind sich jedoch alle drei einig: „Wenn man einmal hier auf der Station war, dann will man nicht mehr weg“, sagt Lode und lächelt zurfrieden.
Das Schweinfurter Leopoldina Krankenhaus
Insgesamt 2200 Mitarbeiter arbeiteten im Jahr 2017 im Leopoldina Krankenhaus und den Tochtergesellschaften Leo Service GmbH, MVZ Leopoldina GmbH und SAPV Palliativo GmbH.
20 Kliniken und Fachabteilungen bieten sowohl Diagnostik als auch Therapie an. Auf bestimme Krankheitsbilder spezialisiert arbeiten neun medizinische Zentren klinikübergreifend und mit niedergelassenen Medizinern zusammen.
230 Ärzte führten im vergangenen Jahr 12 600 Operationen durch. Zu 33 000 stationären Behandlungen kamen 32 000 ambulante Behandlungen hinzu.
In 700 Betten blieben die Patienten des Leopoldina durchschnittlich 6,2 Tage lang in Behandlung.
1500 Kinder wurden 2017 im hauseigenen Kreißsaal geboren. Aufgrund einer Kooperation betreuen die Ärzte jährlich jedoch bis zu 2500 Geburten.
150 Millionen Euro Umsatz macht das Krankenhaus durchschnittlich pro Jahr. (lek)