Was Brigitte Mira, die 2005 verstorbene beliebte Volksschauspielerin, mit dem Filmemacher Rainer Werner Fassbinder zu tun hatte, dürfte bekannt sein: Sie spielte 1974 in seinem Film „Angst essen Seele auf“ die einsame Putzfrau Emmi, die sich in den marokkanischen Gastarbeiter Ali verliebt. Damals war sie 64 Jahre alt.
Die Geschichte um ein ungleiches Liebespaar – ein bitter-ironisches Plädoyer gegen Fremdenhass – , die Geschichte machte auch auf den Theaterbühnen die Runde und kam so 1998 nach Meiningen. Der damalige Schauspieldirektor Karl-Georg Kayser inszenierte das Stück für „Georgie's Off“ und engagierte dazu eigens mit Stückvertrag den deutsch-iranischen Schauspieler Shahbaz Noshir aus Heidelberg. Der spielte bis zum 22. Juni 2000 den Ali 21-mal an der Seite von Barbara Wachholtz als Emmi. Und er hätte es auch noch länger getan, wenn nicht im November 2000 vom Amtsgericht Meiningen ein Urteil gefällt worden wäre, das zwar im Mai 2001 wieder aufgehoben wurde, das aber die Entscheidung des Schauspielers, Meiningen zu verlassen, begründete.
Das Urteil betraf zwei junge Männer, 20 und 16 Jahre alt, die Shahbaz am 14. Januar 2000 im Meininger Bahnhof – in einer Gruppe Heranwachsender – beschimpft, bespuckt und angegriffen hatten. Der Schauspieler war am späten Nachmittag gerade aus dem Zug gestiegen, um am Abend – erste Ironie der Geschichte – in Georgie's Off in einer Vorstellung von „Angst essen Seele auf“ zu spielen. Shahbaz wurde von der Horde mit rassistischen Sprüchen beleidigt: „Dreckiger Ausländer“, „Scheiß Kanake“, „Du gehörst in die Gaskammer“. Zudem wurde er mit Schlägen und Tritten traktiert. Passanten griffen nicht ein, standen aber als Schaulustige herum. Selbst die Bahnmitarbeiterin hinter dem verglasten Schalter, die Shahbaz um Hilfe bat, zuckte mit den Schultern und gab vor, sie hätte zu tun. Der Angegriffene hielt den Wortführer der Gruppe am Gürtel so lange fest, bis zwei Polizisten eintrafen und Täter und Opfer auf der Wache vernahmen.
Eine bezeichnende Erscheinung am Rande: Als der Schauspieler bekundete, er habe heute abend in Fassbinders „Angst essen Seele auf“ auf der Bühne zu stehen, korrigierte ihn ein Beamter in Oberlehrermanier, ohne Kenntnis des bewusst grammatikalisch falsch gewählten Titels. Es müsse heißen „Angst isst Seele auf“. Shahbaz, der seit 1986 in Deutschland lebt und inzwischen deutscher Staatsbürger ist, wusste es besser. Noch so eine Ironie der Geschichte.
Der Schauspieler ging an diesem Abend auf eigenes Risiko mit Blutergüssen und Schwellungen im Gesicht, an Bauch und Rücken und mit Magenschmerzen auf die Bühne. Er stand zwar noch unter Schock, spielte sich aber wieder in die Rolle ein. Intendantin Christine Mielitz hatte vor der Vorstellung das Publikum informiert und dabei auf Shahbaz' Wunsch hin darauf verzichtet, ihn weder als Opfer noch als Helden zu stilisieren. Auch ein lukratives Interviewangebot von „Stern TV“ lehnte er kurz darauf ab: „Ich will kein armseliges Opfer spielen.“
Im November 2000 dann das Urteil: Der Haupttäter erhielt eine zweijährige Jugendstrafe, die drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem wurde wegen seiner Alkoholabhängigkeit die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus angeordnet, aber nicht vollzogen. Es gab damals keine freien Therapieplätze in Thüringen. Von einem rechtsradikalen Hintergrund der Tat war in der Urteilsbegründung keine Rede. (Anmerkung der Redaktion: Erst als der junge Mann im Dezember 2000 erneut gewalttätig wurde, kam er in Untersuchungshaft und wurde im Mai 2001 vom Amtsgericht Meiningen wegen Raub, Körperverletzung und Erpressung zu einer Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, mit der Aussicht auf Umwandlung in eine Bewährungsstrafe, falls eine erneut verordnete Therapie erfolgreich sein sollte.)
Jedenfalls verstand Shahbaz nach dem ersten Urteil, nach dem sich der Haupttäter frei bewegen konnte, das deutsche Rechtssystem nicht mehr.
Eine rechtsradikale Motivation fiel wider jeden Augenschein nicht ins Gewicht und der Deutsch-Iraner musste fürchten, der Horde in der Stadt wiederzubegegnen, womöglich noch mit selbstgerechtem Auftritt und höhnischem Ton: „Schau her, Kanake, uns kann hier nichts passieren.“
Wenn wir, 16 Jahre nach dem Ereignis, in einem Heidelberger Café über diese Zeit sprechen, scheint es so, dass Shahbaz das erste Urteil bis heute nicht versteht. Er hat sich damals entschieden – allein schon des Selbstwertgefühls wegen –, Meiningen zu verlassen, obwohl er gerne am Theater weitergespielt hätte und in der Stadt auch Freunde gefunden hatte. Um Meiningen nicht in die Schublade „Fremdenfeindlichkeit“ zu stecken, weiß er im nächsten Augenblick des Gesprächs nur Gutes über die zwei Jahre als Gast am Südthüringischen Staatstheater zu erzählen: „Wenn ich an Meiningen denke, denke ich zuallererst nicht an diesen Vorfall. Ich denke an das Theater und an liebe Menschen und gute Schauspieler und gute Inszenierungen. Ich konnte mir so ein Theater vorher nicht vorstellen. Zuerst hielt ich Meiningen für ein Kaff, aber als ich dieses Theater von innen sah! Es war großartig, dass ich die gute Zeit dort erleben durfte! Das Negative bleibt bei mir selten haften.“
Haften blieb der Vorfall und nicht die Verbindung mit dem Ort. Denn das, was Shahbaz am Meininger Bahnhof widerfuhr, das hätte ihm überall passieren können, im Osten wie im Westen. Davon war er damals überzeugt und er ist es auch heute noch. Bereits im April 1998 berichtete er im Gespräch mit unserer Zeitung von fremdenfeindlichen Erfahrungen überall im Lande und von der Unfähigkeit vieler Menschen einzuschreiten: „Die kleinen, alltäglichen Diskriminierungen halte ich für noch gefährlicher als den ausgesprochenen Fremdenhass.“
Der Vorfall blieb haften und Shahbaz, der nach dem Weggang aus Meiningen seine Ambitionen als Filmemacher wiederentdeckte, Shahbaz machte 2002 aus der Geschichte einen Kurzspielfilm, „Angst isst Seele auf“. Ohne Hinweis auf den konkreten Ort des Geschehens. Gedreht mit „subjektiver Kamera“ aus der Sicht des Opfers – dessen Gesicht man nie sieht: Ein dunkelhäutiger Schauspieler trifft mit dem Zug in einem Ort ein, an dem er am Abend im Theater als Ali auf der Bühne stehen soll, in Fassbinders „Angst essen Seele auf“. Und wer sitzt auf der Bühne an einem Tisch, wartet auf ihn und dreht sich danach mit ihm zum Tanz? Emmi – die damals bereits 92-jährige Brigitte Mira.
„Eine Bedingung für den Film war“, erinnert sich Shahbaz, „Brigitte Mira soll noch einmal Emmi spielen. – Und sie sagte zu. Drehort war die Bühne des Heidelberger Stadttheaters. Jeder hat mich vor ihr gewarnt. 'Sie ist unkonzentriert, sie kommt mit ihren Perserkatzen. Sie ist arrogant. Sie hört keinem Regisseur zu. Und und und. Und du hast nur einen halben Tag mit ihr Zeit. Zwei Szenen.' – Das war mein erster professioneller Spielfilm. Ich habe gezittert. 'Wie soll ich mit dieser Dame umgehen, um Gottes Willen? Mit einer deutschen Diva!' Und sie sagte einfach: 'Du, Schätzchen, komm mal her. Du bist der Chef, du bist der Regisseur. Ich bin deine Schauspielerin. Sag, was du willst – ich mach's für dich.' – 'Aber, Frau Mira -', 'Vergiss Frau Mira. Ich bin Brigitte.' Sie hatte ihre original Fassbinder-Kostüme mitgebracht. Haben sogar noch gepasst. Auf der Bühne war sie ungeheuer charmant. Sie hat regelrecht mit mir geflirtet. Und sie hat ihre Rolle beherrscht. Alles lief einwandfrei. Die Frau war zum Knutschen. Es war mir eine große Ehre. Und der Kameramann war derselbe, der im Fassbinder-Film hinter der Kamera stand: Jürgen Jürges.“
Shahbaz' Film sorgte auf internationalen Festivals für Aufmerksamkeit, wurde erstmals bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt und war als „Bester Kurzfilm“ für den Max-Ophüls-Preis nominiert. Als Bonus-Film wurde er in die DVD-Edition von Fassbinders Werk aufgenommen und ist im Internet abrufbar (www.vimeo.com/179340198). „Angst isst Seele auf“ war der Beginn des zweiten Berufswegs des Künstlers in Deutschland. Shahbaz hatte in Teheran ein Theaterstudium absolviert und vor allem seinem Mentor Mostafa Oskooyi – einem der Väter des modernen iranischen Theaters – viel zu verdanken. 1986 floh Shahbaz vor dem Khomeini-Regime nach Deutschland, erhielt Asyl und beendete 1993 eine Ausbildung zum Pantomimen und Körpertheaterkünstler in Berlin. Bevor er nach Meiningen kam, spielte er am Stadttheater Heidelberg und zog mit einem eigenen Performanceprogramm durch die Republik.
Nach seiner Meininger Zeit stand er nur noch vereinzelt auf der Bühne und widmete seine ganze Leidenschaft dem Metier Film. Als Regisseur, als Darsteller, als Drehbuchautor und als Produzent. Jetzt hat er – mit eigenen Mitteln und Crowd-Funding – seinen ersten Langspielfilm produziert und inszeniert, „Puya“, in dem er die autobiografisch gefärbte Hauptrolle spielt. Puya, ein erfolgloser deutsch-iranischer Filmemacher, begegnet eines Tages dem Protagonisten aus seinem eigenen Drehbuch, einem deutsch-jüdischen Arzt auf der Flucht vor den Nazis. So verquickt Shabaz das aktuelle Flüchtlingsdrama mit Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Auch aus diesem Film sind Sequenzen im Internet zu finden (www.puya-film.com/hintergrund). 25 000 Euro hat der Film bisher gekostet (zum Vergleich: ein professionell in Deutschland hergestellter Langspielfilm wird auf mindestens eine Million Euro Produktionskosten taxiert). Die Profis hinter und vor der Kamera verzichteten allesamt auf ihre Gage.
Natürlich ist Shahbaz vom Wert seines Films überzeugt. „Ich setze meine Ziele sehr hoch. Und ich kann meine Projekte sehr sachlich und gleichzeitig skeptisch betrachten: tauglich oder nicht tauglich. Das beherrsche ich richtig gut.“ Und deshalb hat er sich mit „Puya“ für die nächste Berlinale beworben. Wenn das nicht klappen sollte, wird er an einer Tür nach der anderen anklopfen, bei den A-Film-Festivals in Cannes, Venedig, San Sebastian, Locarno und Moskau.
Kein Wunder, dass bei so viel Leidenschaft und Engagement keine Zeit mehr bleibt, seiner Arbeit auf der Bühne nachzutrauern. Manchmal bedauert er das. Wer weiß, wie sich sein Berufsweg entwickelt hätte, hätte es das Ereignis auf dem Meininger Bahnhof nicht gegeben. Sich an der Werra zu verwurzeln, stand ja nicht zur Debatte. Heidelberg war Shahbaz schon damals zur Heimat geworden. Aber ein bisschen heimischer hätte er sich in Meiningen gerne fühlen wollen. Das Theater betrachtet er heute noch voller Bewunderung und die Arbeit hat ihm Spaß gemacht. Auch die mit seiner Kollegin Barbara Wachholtz: „Sie war eine sensible Schauspielerin und sehr großzügig, in der Art, wie sie mir Freiraum ließ.
Seit gut 15 Jahren hängt bei mir ein Foto im Zimmer. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus 'Angst essen Seele auf'. Barbara und ich, zusammen. Als Emmi und Ali.“