Da geht man jahraus jahrein ins Theater, schreibt Rezensionen, manchmal mit Herzblut, manchmal mit wässriger Tinte, pflegt die Wiederkehr des Immergleichen, identifiziert die Künstler am Duft oder zumindest an der Stellung des Mundwinkels, hält Abstand und glaubt, gerade deshalb das ganze Hoftheater im Blick zu haben und – weiß nichts.
Und dann wird man mit Friedrich Roland konfrontiert. Friedrich Roland ist Schauspieler, erfolglos, mit dem Kündigungsschreiben des Meinelberger Hoftheaters in der Tasche. Eben legt er den Trommelrevolver an die Schläfe, um seinem Heldenleben ein jähes Ende zu bereiten. Doch es macht nur „klick“ und Friedrich Roland hat Zeit, uns seine wahre Geschichte zu erzählen. Wer den leibhaftigen Tragöden kennenlernen will, bevor es zu spät ist, besuche die Studiobühne des Meininger Theaters. Dort trifft er einen Schauspieler, der Friedrich Roland in Engelbert Brunns Ein-Mann-Farce „Heldentod“ derart glaubwürdig verkörpert, „dass man am Ende meint, dem Mysterium des Theaters direkt ins Auge geblickt zu haben“. (Mainpost im Oktober 1994)
Die wahre Geschichte des Michael Kinkel, der Friedrich Roland in Meiningen mimte, sieht natürlich entschieden anders aus. Kinkel ist seit 15 Jahren Mitglied des Berliner Ensembles. Nach Ende der Ära des Intendanten Claus Peymann wird auch er 2017 die traditionsreiche Brechtbühne an der Spree, gegenüber dem Bahnhof Friedrichstraße, verlassen. Dann ist Kinkel 67 Jahre alt. Von 1993 bis 2000 gehörte er zum Ensemble des Meininger Theaters. Schon sein Einstand fiel, gemessen am gewöhnlichen Gang der Dinge, aus dem Rahmen. Albert R. Pasch, Schauspieldirektor in jenen Jahren, erinnert sich daran, dass er und Intendant Ulrich Burkhardt das Bewerbungsschreiben eines Schauspielers des Landestheaters Bruchsal in den Händen hielten – ein aus dem Notizblock gerissenes DIN A 5-Blatt, kariert, auf dem nicht viel mehr stand als „Ich bewerbe mich um eine Stelle als Schauspieler am Meininger Theater. Michael Kinkel.“ Er wurde zum Vorsprechen eingeladen.
An einem Spätnachmittag im Januar sitzt Michael Kinkel in der Kantine des Berliner Ensembles und ergänzt – natürlich mit breitem sächsischem Unterton: „In Bruchsal hab ich gedacht: 'Warum sitz ich hier in der finstersten Provinz? Wo's doch in Meiningen so ein schönes Theater gibt und ich so gerne Thüringer Klöße mag und Thüringer Mädel. Also hab ich mich beworben. Kurze Zeit später steh ich also zum Vorsprechen auf der Probebühne. Plötzlich geht die Feuerwehrsirene los. Ich hab gewartet, bis der Spuk vorbei war, und hab dann die Szene zu Ende gespielt, und der Albert hat gesagt: 'Da hab ich gesehn, dass du'n Profi bist. – Engagiert.'“
Wer in den 1990-er Jahren die Ereignisse auf den Bühnen des Meininger Theaters verfolgen konnte, der wird sich an eine ganze Reihe spektakulärer Inszenierungen erinnern und andere längst vergessen haben. Unabhängig davon aber bleiben einem markante Künstler-Typen im Gedächtnis, darunter zwei Schauspieler, die man in ihren Rollentypen häufiger als andere in die (frei erfundene) Kategorie „Schräge Vögel“ einordnete: Helge Lang und Michael Kinkel. Beide mimten einige Male unvergessliche Außenseiter-Paare. Sternstunde war ihr Auftritt als Bademeister (Lang) und Kohleschipper (Kinkel) in Oliver Bukowskis Farce aus dem Wilden Osten, „Bis Denver“.
Michael Kinkel spielte in jenen Jahren, unter vielem anderen, Desdemonas Vater in Shakespeares „Othello“, Peter Squenz in Shakespeares „Sommernachtstraum“, Buttler in Schillers „Wallenstein“, Salomon Goldstein, den Spieler, in Kishons „Sallah Shabati“, einen Kerkermeister und einen deutschen Gefreiten in Jewgeni Jewtuschenkos „Wenn alle Dänen Juden wären“ und natürlich – auch das ein Ereignis, das sich einprägte –, an der Seite von Wolfgang Böhm, Jörg Hartmann und Christine Zart den Lucky in Becketts „Warten auf Godot“, in Regie von Malte Kreutzfeldt. Ein Kritiker schrieb dazu: „Noch nie hat jemand so bedeutungsvoll in der Pfütze gelegen wie Michael Kinkel als Lucky.“
Außenseiter, dienstbare Geister, Einzelgänger, Schergen, Schurken, schräge Vögel und Plebejer – das waren die Rollen, in die man den gelernten Stahlbauschlosser und Absolventen der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ immer wieder steckte. Das Leipziger Arbeiterkind hatte schon mit 15 Jahren seine Liebe für die fantastische Welt des Theaters entdeckt, spielte im Laientheater und ging mit achtzehn tatsächlich ans Theater – als Bühnenarbeiter.
Schergen, Schurken, schräge Vögel, dienstbare Geister und Proletarier – von solchen Rollen lebt Kinkel noch heute: „Ich bin hier am BE immer so ein bisschen der Arbeiter, auch zuständig fürs Grobe, muss Leute einschüchtern und zur Räson bringen. Mein Berufsbild ist sozusagen Einschüchtern und Verhaften. Eben proben wir Nikolai Erdmans „Der Selbstmörder“, ein lange verbotenes Stück aus den Endzwanzigern in der Sowjetunion. Da bin ich natürlich der Fleischer.“
Einen Fleischer spielte er auch schon in Meiningen, in „Tiefseefische“ von Roland Spranger. „Da musste ich Hackepeter essen und Bier trinken. Deshalb hab ich bei meinem Fleischer, der im Programmheft lobend erwähnt wurde, Hackepeter besorgt. Danach bekam ich beim Einkaufen Rabatt.“ Würde man nicht nachfragen, ob ihn die „Zeit der Wunder“ besonders geprägt hat, er würde erzählen und erzählen, ohne seiner Meininger Ära einen besonderen Wert einzuräumen, der über die Bedeutung der Künstlerzeit davor und danach hinausreicht. Die Zeit vor 1993 – als Schauspieler in Halle, als Kabarettist bei der Nationalen Volksarmee, als Schauspieler in Eisleben und in Bruchsal –, die Zeit vor 1993 scheint für ihn ebenso bedeutsam wie die Meininger Zeit.
„Meiningen – das war eben 'ne Stufe einer Rakete“, genauso wie die Zeit danach, als Mitglied des Berliner Ensembles oder als Mitwirkender in Werbespots, wie zum Beispiel mit Hape Kerkeling für die „Celebrations“-Bonbonniere.
Michael Kinkel ist eben ein Werktätiger, ein am Werk Tätiger, der das Eintauchen in seine Rollencharaktere für weit wichtiger erachtet als das Gewusel hinter den Kulissen. Sein unerfreulichstes Erlebnis mit Regisseuren war die Begegnung mit Rolf Hochhuth, der in Meiningen seine „Wessis in Weimar“ inszenierte und damit nicht nur bei Kritik und Publikum durchfiel, sondern auch bei den Schauspielern. „Da bin ich frech geworden und hab ihm gesagt, er könne nicht inszenieren. 'Sie sind unverschämt!', hat er geantwortet. Und ich: „Es tut mir leid, aber gehen Sie lieber nicht als Regisseur ins Theater.“ Wie andere Schauspieler auch liebte Kinkel den alten, weisen Regisseur Fritz Bennewitz, der als Gastregisseur am Hause weilte, 25 Jahre nach seiner legendären Meininger Inszenierung der Dreigroschenoper. „Ich komme immer wieder zu Fritze. Der war wirklich so etwas wie der 'Alte Häuptling'.
'Vertrauen Sie Ihren Impulsen!', hat er zu mir gesagt, 'vertrauen Sie sich selbst!'“ – War auch Ulrich Burkhardt eine Leitfigur für Kinkel? „Doch schon. Er hat Wort gehalten: 'Sie werden hier gut zu tun kriegen. Und gute Sachen.' Der war ja auch ein bisschen so ein Bullenkerl wie ich. Das Verhältnis war, sagen wir mal, etwas verkantet. Aber man spürte schon die Wertschätzung.“
Michael Kinkel zog es 2000 nach Berlin, wo ein Sohn und eine Tochter aus einer früheren Ehe lebten. „Der Mensch muss ja wohin“, selbst wenn er ein „bewäächtes Lääm“ hat. Dieses Irgendwo ist für ihn nach wie vor Berlin. Besser gesagt: Berlin Mitte. „Wir haben hier sechs Museen, vier Theater, zwei Opernhäuser. Und ich wohne mittenmang. Fünfzehn Minuten zu Fuß in mein Theater.“ Als ob Berlin Mitte so etwas wie sein zweites Herz ist, samt Kranzgefäßen, seine Wohnung die linke Herzkammer und das BE seine rechte, die das sauerstoffarme Blut in die Lungengefäße pumpt, um es wieder anzureichern.
In den 15 Jahren am Berliner Ensemble gab es enorm viel Blut zu pumpen und anzureichern, seit ihn damals Oberspielleiter Philip Tiedemann ans BE holte und ihn als Episodenspieler in ungezählten mittleren und kleinen Rollen besetzte. Wie etwa in Peter Steins Inszenierung des Zerbrochenen Krugs, in dem seit 180 Vorstellungen Klaus Maria Brandauer den Dorfrichter gibt und Kinkel den Büttel. Heiner Müllers Inszenierung des „Arturo Ui“ von 1995 mit Martin Wuttke (Kinkel: Grünzeughändler) brachte es auf sage und schreibe 404 Vorstellungen, die „Dreigroschenoper“ (Kinkel: Pastor Kimball) auf 252. Gar nicht zu sprechen von „Der gute Mensch von Sezuan“ (Kinkel: Polizist), „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ (Kinkel: Arbeiter), „Mutter Courage“ (Kinkel: Landsknecht), „Andorra“ (Kinkel: Tischler), „Die Gewehre der Frau Carrar“ (Kinkel: Fischer). Zehn Rollen hat Michael Kinkel im Augenblick auszufüllen. „Ich hab mich dumm und dämlich gespielt. Wir haben ein Ranking im Ensemble, Gold, Silber, Bronze, so eine Art Leistungsprämie für die, die die meisten Vorstellungen spielen. Ich bekam von 2009 bis 2012 viermal Gold hintereinander.“ Keine Spur also von Sentimentalität, die Meininger Zeit betreffend. Vielleicht ein leichtes Bedauern über den Verlust von Thüringer Klößen und Thüringer Mädels.
Während Michael Kinkel erzählt, ziehen im Geiste eine Menge schräger Vögel an einem vorüber. Sie sind einem näher als man denkt. Und wer das Theater zu dieser frühen Abendstunde verlässt und im Menschengewühl dem hell erleuchteten Bahnhof Friedrichstraße zustrebt, der ist sich sicher, dass noch genügend Rollen auf Michael Kinkel warten, selbst wenn seine Zeit beim Berliner Ensemble im nächsten Jahr zu Ende geht.

