
Wenn Heinrich Krug singt, wird seine Stimme hell und klar. „Heeeeeeeuuute geh' ich ins Maxim, dooort ist es sehr intim“ – den Klassiker von Johannes Heesters stimmt er beim Erzählen am Küchentisch an. Er sitzt auf der alten Bank in der Ecke, ein Glas Apfelschorle vor und eine Menge Geschichte hinter sich. 98 Jahre alt ist Heinrich Krug, der älteste Mann in Gochsheim. „Ich habe alle schlechten Zeiten mitgemacht“, sagt er. Zwei Weltkriege, dunkle Zeiten. Erst Soldat, dann Kriegsgefangener. Aber auch Beinahe-Geliebter einer Fürstin und schließlich Gurkenmillionär.
Als „Arme-Leuts-Bua“ ist Heinrich Krug zur Welt gekommen, am 19. Januar 1916. Fünf Kinder waren im Haus, die Eltern hatten als Bauern nicht mal einen Hektar Land und brachten die Familie gerade so durch. Nichts, auf dem er sich hätte ausruhen können. Aber das hat er auch nie getan. Mit Gurkenkonserven, Erfindungsreichtum und 75 bis 80 Stunden Arbeit in der Woche haben seine Frau und er ihr Geld verdient. Seit 2003 ist er Witwer.
Gerade erlebt er aufregende Tage. „Heute kommt alles zusammen.“ Am Morgen hat erst die Dame vom betreuten Wohnen angerufen und er hat sie mit seinen zwei Hörgeräten kaum verstanden, jetzt ist auch noch die Frau von der Zeitung vorbeigekommen. Am 6. Oktober wird Heinrich Krug seinen riesigen Hof verlassen und in ein 1-Zimmer-Apartment mit Betreuung umziehen. Er reflektiert sein Altwerden. „Ich merke, wie ich in den letzten Jahren abgebaut habe, körperlich und geistig.“ Den Schalk hat er noch immer im Nacken, die Augen sind hellwach. Wenn er weiterhin Johannes Heesters imitiert – und das hat er beim Wirtshaussingen immer gern gemacht – hat er noch zehn Jahre vor sich.
Krug ist zäh. Als der Zweite Weltkrieg begann, war er gerade 23 Jahre alt. Perfektes Alter für die Front – schon zwei Wochen nach Kriegsbeginn wurde er eingezogen und in den Polenfeldzug geschickt. Danach Frankreichfeldzug. Dann Russlandfeldzug. In seinen Memoiren, die Krug 2011 auf 90 Seiten handschriftlich aufgezeichnet hat, steht alles ganz genau. Krug war Panzerjäger. Bei Charkow (Ukraine) wurde er dann von einem Bombensplitter getroffen. Noch heute steckt ein Stück in seinem Knie. „Mit einer Ju haben sie uns Männer heimgeflogen“, erinnert er sich. Ein halbes Jahr lag er im Juliusspital in Würzburg, bis er wieder fit war.
In der sogenannten Genesungskompanie in Straubing arbeitete er, bis der Arzt ihn wieder „k.v.“ schrieb: kriegsverwendungsfähig. Ein Bekannter wollte ihn ködern, noch einmal nach Russland zu gehen, er könne ihn zum Feldwebel machen. „Und wenn du mich zum General machen könntest, nach Russland gehe ich nicht mehr“, habe er da gesagt – und sich zum Afrikafeldzug gemeldet, um dem Osten zu entgehen.
In Tunesien wurde er noch Feldwebel, bis der Feldzug verloren ging. Im Mai 1943 war er ein Kriegsgefangener. Mit einer riesigen Armada wurden die Männer nach Boston gebracht. Texas, Arkansas, Oklahoma, Arizona und schließlich Kalifornien folgten. Vor allem aus der Zeit im „Golden State“ erzählt Heinrich Krug recht unbeschwert. „Wir sind im Mai in Kalifornien angekommen und im September hat es das erste Mal geregnet.“ Der gelernte Garten- und Landschaftsbauer arbeitete in der Tomatenernte und war nach den Kriegsjahren überwältigt vom Überfluss. Als sie einmal tonnenweise frisch gepflückte Tomaten in einen Steinbruch kippten, daran erinnert er sich noch ganz genau. Er machte seine Sache gut, hat sich „halt angepasst“ und bekam zum Schluss vier Stangen Chesterfield – bevor sie ihn 1946 nach England verschickten.
In der Nähe von Manchester arbeitete er dann als Gärtner bei einer reichen Frau, er sagt, sie sei eine Fürstin gewesen. Die mochte die „very nice german Boys“ und wollte sich mit dem jungen Heinrich Krug immer gerne mal im Teehaus unterhalten. Ihren Rolls-Royce durfte er ausfahren und wäre nicht dieser andere „very nice german Boy“, ein 1,90 Meter großer Hüne aufgetaucht – wer weiß, ob Krug 1947 nach Gochsheim zurückgekommen wäre.
Doch er kam zurück und seiner Frieda näher. Er kannte sie schon vor dem Krieg, aber erst danach wurde etwas aus ihm und der neun Jahre jüngeren Frau aus dem Ort. 1949 heirateten die beiden und packten ihr Leben an. Fünf Hektar Feld hatten sie, allerdings aufgeteilt auf 50 Parzellen. Zwiebeln, Knoblauch und vor allem: Gurken. Eingemachte Gurken, das war's. Mehr Land kam hinzu, 1958 stellten sie eine 450-Quadratmeter-Halle hin. „Die war wie ein Großbetrieb im Kleinen aufgebaut.“ Pro Saison kamen 5000 große Dosen und 8000 Gläser Gurken zusammen. Sie arbeiteten hart, wurden Eltern, 40 Jahre lang ist Heinrich Krug zweimal die Woche auf den Markt nach Ansbach gefahren. Zweimal die Woche klingelte der Wecker um 2.30 Uhr in der Nacht. Etwa 30 Gurkeneinleger gab es damals im Dorf, heute ist nur noch eine Konservenfabrik geblieben.
Den großen Hof haben sie gemeinsam aufgebaut, bis ein Mehrfamilien-Haus auf einem 2000-Quadratmeter-Grundstück stand. Seit dem Tod seiner Frau lebt Heinrich Krug allein in einer der Wohnungen, die anderen sind vermietet. Schlicht ist seine Wohnung, die Möbel nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Der Gurkenmillionär lebt bescheiden.
Dzevat Dacic lebt mit seiner Frau und vier Kindern im Haus. Er wird es kaufen, wenn das Gochsheimer Urgestein ausgezogen ist. Dacic hilft Heinrich Krug seit Jahren auf dem Hof, denn der 98-Jährige ist fit im Kopf, aber natürlich lässt die Kraft nach. Das Gehen fällt ihm schwer. In einem Knie ist ja noch immer der Granatsplitter. Dazu hat er vor Jahren noch einen Unfall mit einem Renault gehabt, wobei sein Fuß schwer verletzt wurde. Krug kramt in Papieren auf der Fensterbank in der Küche und zieht ein vergilbtes Polaroid hervor. Das Foto von seinem halbzerfetzten Fuß ist absolut Horrorfilm-geeignet. Die Reporterin erschrickt, Krug lacht. So leicht kann einen wie ihn eben nix mehr schocken.
Dass er den Hof nun verlassen wird, damit ist Heinrich Krug im Reinen. Er mache Platz für Dacics Familie. Er hat genug erlebt in fast einem ganzen Jahrhundert. „Wissen Sie, es wird auch Zeit, dass man mal abgeholt wird“, sagt Krug und meint damit nicht die Leute vom betreuten Wohnen. Doch bis dahin hat er noch zu tun. Die Dame von der Einrichtung, die am Morgen angerufen hat, hat ihn schon eingeplant – als Johannes Heesters. Drei Songs stehen schon. „Heeeeute geh' ich ins Maxim . . .“