Als im November 2013 das Nachrichtenmagazin „Focus“ als erstes deutsches Medium über den Fall des Cornelius Gurlitt aus München berichtete, konnte man es fast nicht glauben: insgesamt 1500 verschollene Kunstwerke der renommiertesten Maler der Geschichte tauchten da plötzlich auf, davon 1280 in seiner Münchner Wohnung. Was war das für ein Mensch? Was ist das für eine Sammlung? War es richtig, die Bilder zu konfiszieren? War es Raubkunst? Ist es ein Nazi-Schatz?
Neues Buch, neue Ausstellungen
Tausend Fragen, kaum Antworten, vor allem weil der im Mai 2014 verstorbene Gurlitt keine lieferte. Nun, im November 2017, schlägt der Fall Gurlitt, der fast in Vergessenheit geraten war, wieder Wellen: Es gibt ein für Staatsanwaltschaft und Zollbehörde wenig schmeichelhaftes Buch des Kunsthistorikers Maurice Philip Remy, die Ausstellungen im Kunstmuseum Bern, dem Gurlitt seine Werke überraschend vermacht hatte, und der Kunsthalle Bonn sind gestartet und in Schweinfurt feierte das Renaissance-Theater Berlin mit dem von Ronald Harwood geschrieben Theaterstück zum Thema unter der Regie von Thorsten Fischer Tournee-Premiere. Eine gelungene, das vorweg.
Aber es ist auch ein Stück, das wie der ganze Fall zahllose Fragen offen lässt – nicht nur zu Details, sondern durchaus zu den großen Themen Moral und Schuld. Was wiederum für die moderne Inszenierung spricht, die dank des Schauspiels von Udo Samel als Cornelius Gurlitt und Annika Mauer und Boris Aljinovic als Vertreter des Staates kurzweilig war. Es wäre gerade bei so einem Thema auch nicht angemessen, wenn man beschwingt nach Hause gehen würde.
Undurchdringlicher Schleier der Täuschung
Schon die Eingangsszene fesselt. Ein großes schwarzes Tuch liegt wie ein undurchdringlicher Schleier der Täuschung zu Beginn über Gurlitts Wohnung, seinen Bildern, seiner Eisenbahn. Er kriecht unter dem Tuch hervor, malt sich ein weißes Clowns-Gesicht, das Tuch wird weggezogen, Gurlitt setzt sich eine Schaffnermütze auf und spielt mit seiner Bahn. Um ihn herum haufenweise Bilder, alle mit der Rückseite zum Publikum. Gurlitt plappert vor sich hin, plötzlich klingelt es, der Beginn der Spirale des Unglücks, die letztlich zu seinem Tod führt. Der Staat, in Form der von Mauer und Alijnovic gespielten Zoll-Ermittler, steht vor der Tür. Der Anlass ist die Kontrolle Gurlitts in einem Zug aus der Schweiz Richtung Deutschland, wo man 9000 Euro bei ihm fand.
In die Enge getrieben
Es beginnt ein surrealer Reigen, der die Zuschauer fesselt. Die Art, wie die Beamten Gurlitt, obwohl er rechtlich gesehen nichts falsch gemacht hat, Steuerhinterziehung unterstellen, ihn in die Enge treiben, ihn befragen, ihm das Erbe seines Vaters, des in den 1920er und 30er Jahren gefragten und versierten Experten für moderne Kunst und Kunsthändlers Hildebrand vorwerfen, suggerieren, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann, ist kafkaesk.
Remy hat die Ermittlungsakten ausgewertet, spricht in seinem Buch offen von Amtsmissbrauch und einem konstruierten Fall, aus dem die Staatsanwaltschaft nur deswegen ungeschoren herauskam, weil der Verdächtige starb.
Wie unschuldig ist Cornelius Gurlitt?
Doch wie unschuldig ist Cornelius Gurlitt wirklich? Was wusste er über die Herkunft der väterlichen Sammlung, seiner „Familie“, seinem „Fleisch und Blut“, wie er die Bilder nennt? Udo Samel zeichnet das Psychogram eines zutiefst verunsicherten, verschrobenen, teilweise auch sexistischen, offen unsympathischen Einzelgängers. Der die Risse und Sprünge seiner Welt nur mühsam kitten kann. Sein Vater „war ein Gentleman, ein wundervoller Ehrenmann“ – daran hält er sich fest, denn ansonsten würde das darauf aufgebaute Leben als Lüge entlarvt.
Die Wahrheit über den Fall Gurlitt kann dieses Stück nicht liefern – das war aber auch nie der Anspruch. Dass man nach Hause geht voller unbeantworteter Fragen im Kopf, spricht in diesem Fall für die Art der Inszenierung und vor allem die gezeigte Schauspielkunst.