Markus Hüttl weiß, wie Krieg aussieht. Krieg macht nicht nur Städte und Dörfer zu Staub. Krieg tötet Hoffnung, sät Hass. Hüttl weiß, wie Krieg riecht. Abstoßend, ekelhaft. Fast nicht zu beschreiben und unvorstellbar für jemanden, der noch nie in einem Kriegsgebiet war, in dem unter den Trümmern die Leichen von Menschen und Tieren liegen oder auf offener Straße Hingerichtete verwesen.
"Jenseits von Weinen", sagt er, so habe er sich manchmal gefühlt, als er von 2017 bis 2018 im Irak war und dort für die Weltgesundheitsorganisation WHO Kliniken aufbaute, während der Krieg gegen die Terrororganisation "IS" tobte. Ruhig und sachlich erzählt der 59-jährige Anästhesist und Notfallmediziner von seinen Einsätzen. Er hat für die Weltgesundheitsorganisation WHO Projekte in verschiedenen Teilen der Welt aufgebaut und geleitet. Außerdem ist er in der Luftrettung aktiv, war unter anderem oft in Südostasien im Einsatz. Und seit einiger Zeit ist der Landsberger auch verstärkt in Deutschland aktiv: bei der Corona-Bekämpfung. Aktuell in Schweinfurt, wo er das Impfzentrum leitet.
Was immer durchklingt, wenn er von seinen Einsätzen berichtet: Respekt, Einfühlungsvermögen. Und die Fähigkeit, zuzuhören, genau zu beobachten und zu wissen, was die Leute brauchen: ein bisschen Humor, eine nettes Wort, ein Lächeln oder eine flammende Rede, um den Teamgeist aufzubauen. Dazu kommt die Autorität, die aus Können, Vorbildfunktion, Menschlichkeit entsteht und in Hochachtung und Vertrauen mündet. Kurz: Da ist jemand, dem man mit Überzeugung folgen kann. Und jemand, der einem das Gefühl gibt: "Wir schaffen das."
Markus Hüttl kennt den Krieg. Und er weiß auch, wie Glück aussieht. Wenn ein Kind durchgekommen ist, das von einem Scharfschützen angegriffen wurde, zum Beispiel. Wenn Mutter und Klinikteam dann strahlen vor Freude, auch wenn Anspannung und Verzweiflung noch nachwirken. Oder wenn es dem Team gelingt, per Notkaiserschnitt eine hochschwangere Frau zu retten, der ein Sniper, ein Heckenschütze, in den Bauch geschossen hatte. Das Kind im Mutterleib hatte nur einen Streifschuss am Ellenbogen abbekommen, erzählt Hüttl. Happy Ends gibt's auch im Krieg. Nur so kann man das wahrscheinlich ertragen. Vielleicht hat der Arzt das Bild von Mutter und Kind deswegen aufgehoben. Um sich an solche Glücksmomente zu erinnern.
Zwischen Verzweiflung und Glücksmomenten
Zu den Glücksmomenten des Arztes gehörte immer auch, wenn das Team abends beim Essen zusammensaß im Hof der Container-Klinik bei Mossul. Geschützt von Betonsperren gegen Selbstmordattentäter, bewacht von Posten mit Maschinengewehren, aber voller Vorfreude aufs Kebap. Die Grillabende waren immer ein Höhepunkt, erzählt der 59-Jährige. Die Grillspieße Marke Eigenbau hat er als Souvenir mitbekommen. "Die benutz' ich jetzt daheim."
Zu einigen der Leute, mit denen er im Irak arbeitete, hat Hüttl noch Kontakt. Um so trauriger, dass manche der Männer und Frauen, die auf den Gruppenfotos so fröhlich lächeln, nicht mehr leben. Auch das gehört zum Krieg. Und wohl auch zur Taktik der Terroristen. Niemand soll sich sicher fühlen.
Kinder als Zielscheiben und Köder benutzt
Hüttl hat ein weiteres Bild mit einem Kleinkind aus seiner Irak-Zeit aufgehoben. Es liegt in einem Krankenhaus-Bettchen, ein Arm verstümmelt und verbunden. Die Geschichte dahinter macht sprachlos. Der kleine Junge war als Lockvogel verwendet worden, erzählt Hüttl. Ein IS-Sniper hatte ihn in die pralle Sonne gelegt. Er weinte, schrie. Die Erwachsenen, die herankamen, um ihm zu helfen, wurden abgeknallt. Der Terrorist ließ das Kind einfach liegen. Straßenhunde nagten seinen Arm an.
Im Krankenhaus wurde der Arm amputiert, der Kleine wurde wieder aufgepäppelt. Verwandtschaft fand man keine mehr, erzählt Hüttl. Der Junge wurde in ein Waisenhaus aufgenommen.
Kinder als Zielscheiben. Keine Seltenheit. Markus Hüttl erzählt von Puppen, die mit Plastiksprengstoff gefüllt waren. "Das ist grausam." Hüttls erster Einsatz in der Klinik im Irak: 16 Kinder waren in ein Minenfeld geraten. "Wir waren erschüttert", erinnert er sich. In Wellen seien am Anfang die Opfer in die Klinik gekommen: nach Bombenangriffen, nach Sniper-Attentaten, nach Minen-Kontakt. Als der Terror weniger wurde, gab es eine neue Welle von Verletzungen: Brandwunden. Die Menschen kochten mit Benzin, Kerosin, was gerade da war, erinnert sich der Arzt. Unfälle waren unausweichlich.
Ebola in Sierra Leone bekämpft
Im Irak war der Feind klar. Zuvor, in Sierra Leone in Westafrika, hatte Markus Hüttl zwischen Juli 2015 und Anfang 2016 einen unsichtbaren Feind kennengelernt: das Ebola-Virus, das zu einer schweren, meist tödlichen Krankheit führt. "Ebola hat mich mehr mitgenommen als der Irak."
Als das Angebot kam, ein Ebola-Zentrum in Sierra Leone zu übernehmen, arbeitete er gerade an einem Krankenhaus in Saudi-Arabien. Die Entscheidung, zuzusagen, sei ihm nicht leicht gefallen. Zumal die Familie in Landsberg, gelinde gesagt, nicht begeistert war. Der Anfang sei hart gewesen, erzählt Hüttl: "Gespenstisch, grausam. Menschen kamen mit Schnupfensymptomen. Am siebten Tag ging's los, am neunten Tag waren sie tot."
Die Angst vor Ansteckung war groß, überall. Auch bei den Medizinern. "Ich hatte schon tausendmal Blut abgenommen. Aber da habe ich dann zu zittern angefangen", sagt Hüttl. "Kein Stück Haut durfte rausschauen. In der afrikanischen Hitze im Ganzkörperschutzanzug zu arbeiten war eine Tortur."
Aus Angst vor Ansteckung taten die Menschen fürchterliche Dinge. Infizierte, die aus dem Ebola-Zentrum fliehen wollten, wurden von einer Art Bürgerwehr erschossen. Hüttl zeigt Bilder, bei denen es einem kalt ums Herz wird. Eine tote Frau am Straßenrand, neben sich ihr noch lebendes Kind. Massengräber. Eine verzweifelte Frau an einem Grab.
Freude über den ersten Ebola-Geheilten
Aber auch hier gab es die Momente, die alle Panik, alle Anstrengung vergessen ließen: "Unser erster Geheilter, der unter Beifall entlassen wurde." Er hat einen Handabdruck an einer Wand hinterlassen, als Zeichen. Viele weitere Handabdrücke folgten. Das 600-köpfige Team habe das alles gut überstanden, sagt Hüttl. Nicht ein Mitglied hat sich infiziert.
"Teamgeist ist alles", das ist seine tiefe Überzeugung. Wie Hüttl als Chef diesen Teamgeist schmiedet, das hängt auch immer von der Situation ab. Und von den Menschen. Im Irak habe geholfen, dass er alle aufgefordert hat, in die Luft zu springen und "We can do it" zu rufen. Okay, beim ersten Sprung sei er allein gewesen, sagt er. Aber dann hätten alle mitgezogen. Und bewiesen, dass sie es schaffen.
Der Mediziner hat erlebt, wie viel einzelne Menschen bewirken können, wenn sie zusammenhalten, sich als Teil eines großen Ganzen verstehen. Und versuchen, ihr Bestes geben. Egal, an welcher Stelle. Ob als Arzt oder Ärztin, als Fahrer, als Schwester oder als Pfleger. Egal, ob im Irak, in Sierra Leone, in Ost-Timor, im Jemen oder auf den Salomon-Inseln im Südpazifik. Oder eben im Impfzentrum in Schweinfurt auf dem Volksfestplatz. Dass er mal in Unterfranken eingesetzt wird, hätte er wohl nie gedacht. Eigentlich wäre er jetzt im Jemen, um ein Krankenhaus für die Vereinten Nationen und die WHO aufzubauen. "Das wäre mein bisher größtes Projekt gewesen", sagt er. Corona hat da einen Strich durch die Rechnung gemacht.
"Wir sagen Euch, wie's geht" – wer so anfängt, der kommt nicht weit, sagt Markus Hüttl. Er setzt darauf, gemeinsam Wege zu gehen und Ziele zu entwickeln. "Offene Systeme brauchen länger, um sich zu entwickeln, halten aber länger." Und halten sollen sie. Schließlich soll eine Klinik im Irak auch noch weiterfunktionieren, wenn die WHO sie zurück in die Hände der Einheimischen gibt. Im Irak habe das super geklappt. Als er das Krankenhaus nach einem halben Jahr wieder besuchte, sei er beeindruckt gewesen, sagt Hüttl: "Die haben sich weiterentwickelt."