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Das Opfer könnte noch leben
Von Natalie Gress Boulevard Schweinfurt
 |  aktualisiert: 15.12.2020 13:59 Uhr
schweinfurt Am 14. Februar wurde Ivan Gelhorn (24) in Schweinfurt wegen Totschlags an Robert Griebel (41) zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Der heroinabhängige Übersiedler aus Kasachstan hatte sein Opfer im Juli 2002 erdrosselt, nachdem der Homosexuelle ihm eindeutige Avancen gemacht hatte. Dadurch fühlte sich Gelhorn zutiefst in seiner Ehre verletzt. Die Zeitung sprach nun mit Kornelia Schistka über den Hintergrund der Tat. Die gebürtige Ukrainerin, die seit 1991 in Schweinfurt lebt, arbeitet unter anderem als Dolmetscherin für Gericht und Polizei und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Mentalität Krimineller aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch im Fall Gelhorn war sie in die Ermittlungen involviert: Sie übersetzte Zeugenaussagen.

Frage: In Deutschland wird Homosexualität heute in der Regel toleriert. Wie ist das in den Staaten der früheren UdSSR?

Kornelia Schistka: Dort wird sie noch immer nicht gesellschaftlich akzeptiert und daher meist geheim gehalten. Ich habe in der Ukraine nie jemanden kennen gelernt, der sich offen zu Homosexualität bekannt hat. Kein Wunder, wenn man dann als abnormal, pervers und psychisch krank gilt. Vor allem Schwule werden verspottet, verachtet und stigmatisiert.

Wir leben im 21. Jahrhundert. Wie ist es möglich, dass Menschen immer noch so denken?

Schistka: Es wurde ihnen jahrzehntelang so fest eingetrichtert, bis es in ihren Köpfen verankert war. In der Sowjetunion wurde Homosexualität per Gesetz geächtet, unter Männern sogar verboten. Durch meine Arbeit beim Bundesamt für Anerkennung politischer Flüchtlinge lernte ich Asylbewerber kennen, die in ihrer Heimat aufgrund ihrer sexuellen Neigung strafrechtlich verfolgt wurden. Einer kam in U-Haft, weil ihn die russische Miliz bei einer Razzia in Reizwäsche erwischt hatte. Daraufhin wurde er von anderen Häftlingen vergewaltigt. Das ist die schlimmste Schmach, die einem Mann aus der ehemaligen Sowjetunion widerfahren kann, eine größere Erniedrigung gibt's nicht. Sie brachte viele Vergewaltigungsopfer bei der Armee und im Gefängnis dazu, sich umzubringen. Selbst die Bezeichnung "Schwuler" ist für Männer aus der früheren UdSSR eine schlimme Beleidigung. Sie provoziert oft Schlägereien.

Mit diesem Wissen: Könnte Ivan Gelhorns schwules Opfer Robert Griebel noch leben?

Schistka: Womöglich. Wenn er gewusst hätte, dass er seinen Peiniger durch seine Avancen derart in seiner Ehre verletzt, hätte er vielleicht nicht sterben müssen. Auch andere Gewalttaten wie Messerstechereien könnten durch dieses Wissen verhindert werden. Aber natürlich müssen sich Aussiedler der Gesellschaft hier anpassen.

Und akzeptieren, dass sie Homosexualität toleriert.

Schistka: Keine Frage. Allerdings kommen Übersiedler wie Ivan Gelhorn mit ihrer Mentalität und ihren Werten nach Deutschland. Die lassen sich nicht von jetzt auf gleich ändern. Zumal es auch heute noch genügend Eltern aus der Sowjetzeit gibt, die ihre Kinder in der alten Ideologie erziehen, dass Homosexualität eine Schande ist. Und zwar für die ganze Familie.

Aber ist diese nicht ungleich größer, wenn ein Kind statt dessen zum Totschläger wird?

Schistka: Ich kenne die Eltern von Ivan Gelhorn nicht persönlich, aber ganz sicher schämen sie sich sehr. Gleichzeitig versuchen sie vielleicht, seine Tat wie er zu rechtfertigen, um damit leben zu können. Und vermutlich stehen sie auch weiter hinter ihm. Das ist meine Erfahrung mit Familien aus Osteuropa: Was auch passiert - sie halten zusammen.

 
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