Je moderner Literatur ist, desto profaner, areligiöser, materialistischer, ja nihilistischer wird sie. Begriffe wie „das Heilige“ haben hier kaum mehr Relevanz, jedenfalls nicht im religiösen, im transzendenten Sinn. Deshalb durfte man gespannt sein, was der promovierte Theologe und Schauspieler Markus Grimm aus der Themenstellung „Das Heilige in meiner Hand – ein literarischer Ausflug zu den Reliquien“ bei seinem Solo-Auftritt in Gerolzhofen machen würde.
Nun, Grimm tat vor 70 Zuhörern in der ausverkauften Johanniskapelle einfach das, was die Literatur auch tut. Er profanisierte den Begriff der Heiligkeit. entriss ihn der göttlichen Sphäre, erklärte ihn schlicht aus der Sicht des Etymologen: Die Wortwurzel liegt im Englische „whole“ (ganz), aus der auch das englische „holy“ (heilig) hervorging.
Heiligkeit also als Ganzheit, besser als Sehnsucht nach Ganzheit. Sie bringt Grimm in Verbindung mit der Sehnsucht nach dem Kontakt zum Gegenständlichen, Sinnlichen. Alles ist Ganzheit, Berührung und Leben.
Den Begriff des Heiligen dergestalt erweiternd, eröffnete sich Grimm die Gelegenheit, nahezu jeden literarischen Text in den Bereich des Heilligen zu rücken. „Texte sind Reliquien. Sie machen etwas heilig.“
Unter der normalen Vorstellung von Heiligkeit, wie ihn auch die moderne Religionswissenschaft benutzt, täte man sich schwer, Schillers Ballade „Der Taucher“ mit dem Heiligen in Verbindung zu bringen. Dort geht es um die Hybris des Menschen (des Königs, der den Jüngling ansteckt) im Kampf mit der Naturgewalt, die das Gefährliche und Tödliche birgt.
Besser lässt sich der Bezug zur Heiligkeit schon bei Epikur mit seiner dialektisch verschränkten Herangehensweise an Begriffe wie Leben und Tod herstellen. Die Götter akzeptieren nur Wesen, die ihnen ähnlich sind. Das kann allein der Mensch sein. Aber er ist todgeweiht. Epikur behilft sich: Der Tod ist der Verlust der Wahrnehmung. So lange wir leben, ist der Tod nicht da. Wenn wir sterben, ist das Leben nicht da.
Auch das Brot ist heilig
Von solchen philosophischen Höhen holt Grimm den Begriff der Heiligkeit unversehens zurück ins Banale. In Wilhelm Buschs „Pfannkuchen und Salat“ soll nun die Heiligkeit wie die Liebe durch den Magen gehen.
Auch das Brot ist heilig. Nicht als Hostie, sondern als Überlebensmittel in Wolfdietrich Schnurres apokalyptischer Welt des Toten und Verdorrten („Auf der Flucht“). Erstaunlich, dass in dieser verdorrten Welt noch ein Gefühl wie Schuldbewusstsein wachsen kann. Vielleicht ist das heilig.
Hans im Glück tauscht und tauscht seine Habe so lange, bis aus dem Goldklumpen ein Schleifstein geworden ist. Doch materieller Verlust ist innerer Gewinn. Eine schöne Lehre des Grimm-Märchens. Aber eine heilige?
Grimm brachte das Heilige im Fortgang seiner gut einstündigen Reise auch in Verbindung mit Erinnerung an die Kindheit (Rilke), mit Schönheit (Khalil Gibran) oder Oscar Wildes eigensüchtigem Riesen, der plötzlich weichherzig wird.
Ephraim Kishons köstlich satirischen Text von der Überflüssigkeit eines Vaters bei der Geburt seines Kindes muss Markus Grimm schon öfter vorgetragen haben. Diesen Text spielte er, in ihm ging er auf. Und seinetwegen verzichtete er – auch um den dramaturgischen Aufbaus seines Programms nicht zu zerstören – auf eine Zugabe. „Ich rate ab. Das Programm hat eine Dramaturgie. Gehen Sie mit Kishon nach Hause.“
Markus Grimm hat diese Dramaturgie eigens für die Veranstaltungsreihe „Sehnsucht nach Berührbarkeit – Reliquienverehrung in Franken“ entwickelt, berichtete eingangs Museumsleiter und Organisator Klaus Vogt. Die Reihe läuft nun bereits in der fünften Woche im Gotik-Museum in der Johanniskapelle.
Der wie gewohnt in schwarz gekleidete Schauspieler ließ dabei keinen Zweifel an seinen rhetorischen und darstellerischen Fähigkeiten aufkommen. Alle Texte zeigten durch den Vortrag starke Wirkung. Dafür wurde Markus Grimm zu Recht begeistert beklatscht. Diskussionswürdig bleibt allein, wo überall in der Weltliteratur Markus Grimm nach dem Heiligen gesucht hat.