Hinter Glas hängen die Sterbebildchen, mit Namen, Geburts- und Todesdatum, teilweise auch mit den Fotos der Verstorbenen. Eine Straße und eine Hausnummer sind mit dem Reißnagel dazugepinnt. Jede Woche wechselt Reinhilde Sauer die Trauerbildchen im Schaukasten am Eingang zum Friedhof in Egenhausen aus. Ihre reichhaltige Sammlung umfasst viele Todesnachrichten über verstorbene Egenhäuser und reichen 100 Jahre zurück. An alle wird durch den Aushang in der Woche ihres Sterbedatums erinnert. „Sie sollen nicht vergessen werden“, sagt Reinhilde Sauer.
Die Nähe zu Tod und Sterben und den natürlichen Umgang damit hat die gebürtige Egenhäuserin in ihrer Familie erfahren. „Mein Vater war hier 20 Jahre lang Totengräber, von 1952 bis 1972“, erzählt die 77-Jährige. Aus dieser Zeit kommt auch der Grundstock ihrer Sammlung von Sterbebildchen, die bei einer Beerdigung an die Trauergäste verteilt werden. Angewachsen auf 533 Exemplare ist sie aber durch das Bemühen von Reinhilde Sauer, die sich auch im Historischen Verein des Marktes Werneck engagiert.
„Ich bin zu den Omas in die Häuser gegangen und hab' gefragt“, erzählt sie. Oder sie bat Angehörige von Verstorbenen, ihr deren alte Sterbebildchen zu überlassen, bevor sie in den Müll wandern.
135 Jahre alt ist ihr ältester Totenzettel, gleich drei Namen sind dort in alter Fraktur-Schrift aufgedruckt: der aktuell Verstorbene und seine beiden Geschwister, die schon länger gegangen waren. Die Sprache auf diesen alten Sterbebildchen war auch anders: Da wird von der „wohledlen Jungfrau“ gesprochen oder auch vom „innigstgeliebten Gatten“.
Auch der Geburts- und Sterbeort wurde früher bei den persönlichen Daten aufgeführt. „Heute werden nur irgendwo Geborene und heimatlose Verstorbene beerdigt“, zeigt sich Reinhilde Sauer enttäuscht über gegenwärtige, sparsame Angaben auf den Trauerbildchen. Dabei sei es doch wichtig zu wissen, wo man herkomme, wo die Wurzeln liegen.
„Ich habe an dieser Totengedenktafel schon erlebt, dass Enkel ihre Großmutter nicht gekannt haben“, sagt sie. Früher, als viele Kinder in einer Familie mit großem zeitlichen Abstand geboren wurden, hätten die Jüngsten schon mal nichts von ihrer Oma gewusst – wenn man nicht von ihr gesprochen habe. Reinhilde Sauer verweist damit darauf, dass die Trauerbildchen eine informative Quelle für die Ahnenforschung sind.
Ihre Idee, wöchentlich die Sterbebildchen der in diesem Zeitraum Verstorbenen auszuhängen, fand Reinhilde Sauer 2003 bei einem ähnlichen Projekt in Rhön-Grabfeld. Sie sortierte ihre eigene Sammlung nach Monaten und Wochen, so dass heute Tote von 1905, 1969 oder 2013 nebeneinander stehen, wenn sie die gleiche Sterbewoche haben. Immer samstags tauscht sie die Bildchen aus und hängt meist einen Vers dazu.
„In unserem Leben haben sie ihren Platz verlassen. In unserem Herzen sind sie immer bei uns“, heißt es beispielsweise da. Genau das ist auch die Absicht des Schaukastens. „Die Erinnerung soll bleiben“, unterstreicht die 77-Jährige.
Großen Zuspruch finde diese Art des Totengedenkens, weiß Reinhilde Sauer. Da stünden dann die Leute vor der Glasscheibe und überlegten: „Was, so lange ist das schon her?“ Und die Menschen nähmen noch nach Jahren Anteil am Schicksal.
In dieser Woche wird mit zwei Sterbebildchen an den Unfalltod zweier junger Männer an der Kirchweih 1975 erinnert. Am gleichen Tag, dem 9. November, starb zudem ein älterer Dorfbewohner. „Da waren gleichzeitig drei tote Egenhäuser im Leichenhaus“, erinnert sich Reinhilde Sauer. Für das kleine Dorf sei das mehr als ungewöhnlich gewesen.
Dass sich viele Menschen die Bildchen zum Anlass nehmen, für die Toten zu beten, weiß die gläubige Egenhäuserin. Sie sieht auch, dass auf der Bildseite der Trauerzettel früher gerne in kindlicher Art ein Jesus, eine Maria oder Engel abgebildet waren. Heute jedoch seien fast ausschließlich Naturfotos auf der Außenseite zu sehen: ein Wald, ein Getreidefeld, eine Mohnblumenwiese. Christliche Symbole, das Kreuz, werden eher selten abgebildet.
Wer in Egenhausen gestorben ist und dort begraben liegt, dessen Sterbebildchen wird ausgehängt. Reinhilde Sauer kennt auch genau die Gräber auf dem Friedhof, sie hat sogar einen Belegplan erstellt. „Der Tod gehört doch zum Leben“, sagt sie. „Das kann man nicht ändern.“
Durch solche Aktivitäten bleiben die verstorbenen Ortsbewohner länger und besser im Gedächtnis. Für Familienforscher sind die Sterbebilder oft sehr hilfreiche Informationsquellen. Auf unseren Friedhöfen werden die Gräber immer schneller aufgelöst und Grabsteine verschwinden. Wer Sterbebilder sammelt und diese in der Öffentlichkeit zeigt, hilft, dass unsere Verstorbenen nicht so leicht vergessen werden.
Danke Frau Sauer, dass Sie Erinnerungen an verstorbene Ortsbewohner auf diese Weise wachhalten.