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SCHWEINFURT
DaDa bis die Lettern schwinden
Fesselndes Programm: Marcus Jeroch und Dieter Schroeder ließen in der Disharmonie Worte von der Kette.
Foto: Uwe Eichler | Fesselndes Programm: Marcus Jeroch und Dieter Schroeder ließen in der Disharmonie Worte von der Kette.
Redaktion
 |  aktualisiert: 23.06.2012 12:03 Uhr

„Wir glauben, dass wir mit dem Älterwerden klüger werden. Das ist ein Irrtum.“ Marcus Jeroch zitiert das Manifest des WoWo – die einzige Frage, die sich nach DaDa noch stellt. Merke: „Älter werden bedeutet nicht, dass wir klüger werden. Es bedeutet, dass wir zu uns finden. Das schließt ein Dümmerwerden nicht aus.“ Sagt eigentlich Friedhelm Kändler. Der schrille Hannoversche Begründer des WoWoismus zählt zum Club der DaDa-Dichter, die an diesem Nachmittag in der Disharmonie sinnbefreite „Schlagworte“ liefern.

Er kommt zu, nein, ums Wort wie der österreichische Nachkriegs-Lautmaler Ernst Jandl. Oder der tragische Narr Daniil Charms, der 1942 im Leningrader Irrenhaus zu Tode gehungert wurde: in absurder Eintracht zwischen Stalins Schergen und Hitlers Belagerern. Bürgerschreck Kurt Schwitters wurde von den Nazis ins Ausland gescheucht, als Gestörter und Störenfried zugleich.

Spätestens seit dem Grauen des 20. Jahrhunderts herrscht tiefes Misstrauen gegenüber der Sprache, gegenüber der Tyrannei des „Normalen“ sowieso: „Die Kultu(h)r tickt nicht mehr ganz richtig.“ Der Freiburger Daniel Schroeder trommelt an den Percussions mit am Tohuwabohu. Er und Jeroch haben mit ihrem hintersinnigen „Kinderkrach“ zuletzt den Baden-Württemberger Kleinkunstpreis abgeräumt – sind also schon etablierte Anarchos.

Jeroch verbrachte die Kindheit in Afrika. Heute jongliert der gelernte Zirkusartist mit der Sprache wie mit Bällen. Führt sein Publikum am vermeintlich freien Willen herum, lässt es „wi(e)der stehen“, nein, sich „wi(e)der setzen“. Die eine oder der andere bleibt auch mal gegen die Tendenz stehen: So war es vom Wort-Manipulateur gewollt. Oder? Der Wahl-Berliner erzählt die Geschichte der Menschen, die beschließen, den Himmel unter sich aufzuteilen: „Es ist nicht gut, dass der Himmel frei ist.“ Bis eine Frau ihren Anteil zurückgibt, was sofort zum Krieg ums herrenlose Stückchen Luft führt.

Im Märchen von „Dornrö-sch-en“ kommt nur der Lurch noch durch, unter der Rosenhecke: Die Prinzessin küsst der Frosch versehentlich wach, als er nach der Fliege auf ihren Lippen züngelt. Noch schlüpfriger wird es bei „Wilder Honig um halb 10“: Ein Ehepaar entdeckt spät die schwarze Wonne des Sadomaso – mit Hilfe von allerhand Haushaltsgerätschaften. Unerhörte Freiheit gibt es halt nur noch unter Zwang. Schroeder schlägt dazu den Dichter mit der Kette in Bande, um ihn mit allerhand hässlichen Geräuschen zu quälen.

Am Ende schwinden Jeroch die Buchstaben, erst das D, dann das W, nach und nach demontiert er so den Bausatz der Worte zum bloßen Lallen: schon öfters kopiert, hier aber wirklich staunenswert. Der Drummer beweist, dass auch Trommeln dadaistisch sein kann, rasselt, bimmelt, klingelt, staubt die Becken ab. Ein ständiger ironischer, bissiger Klang-Kommentar. Bevor er, beim Gedicht vom Flusspferd, dass immer „Meer“ will und darüber zum Seepferd mutiert, das Schlagzeug plätschernd unter Wasser setzt. „Zehn kleine Dichterlein“ nennt sich die Endlos-Zugabe, wieder ein echter Kändler: glaubt man den letzten Poeten abgemurkst, sind schon wieder Hundert neue da. Dadaismus ist eben konservativ und hochdiszipliniert, versteckt geschickt den letzten Rest an Wortsinn vor täglichem Missbrauch: Es bleibt einem nur noch der Applaus. Uwe Eichler

 
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