
Was für ein grandioser Abend. Die Begegnung mit der Limón Dance Company aus New York City wurde für die Zuschauer im zweimal ausverkauften Theater zu einem ganz besonderen Erlebnis lebendiger Tanzgeschichte. Denn obwohl der Tänzer und Choreograf José Limón 1971 starb, lebt sein Werk, seine Idee und Tanztechnik in der von ihm aufgebauten Company weiter. Die Schweinfurt-Premiere ihrer Europatournee wurde zu einem bezwingenden und unterhaltsamen Lehrstück des Modern Dance.
Wenn in der Limón-Choreografie „Chaconne“ von 1942 der Tänzer Raphael Boumaila sein Solo tanzt, dann erinnert seine Ausdruckskraft und die Nuancierungen seiner Bewegungen an Harald Kreutzberg (1902-1968), wohl den bedeutendsten Vertreter des deutschen Ausdruckstanzes. Als Limón Kreutzberg 1927 bei einem Gastspiel des Max-Reinhardt-Ensembles sah, soll er impulsiv gesagt haben: „Ich will nicht auf dieser Erde verweilen, ohne das zu lernen, was Kreutzberg gerade getanzt hat“.
Zwei Modern Dance-Pioniere wurden Limóns Lehrmeister, die Schlüsselwerke von Martha Graham und Merce Cunningham wichtige Wegweiser. Hier, in Limóns „Chaconne“ zu Johann Sebastian Bachs gleichnamigem Satz aus der Partita in D-Moll für Solovioline, begeistert der Tänzer Boumaila mit typischen Modern Dance-Bewegungen: Ein neuer Kanon aus Erneuerungsbestrebungen des klassischen Balletts und Einflüssen aus Pantomime, Stummfilm und Avantgarde. Meisterlich vermittelt der Tänzer diesen „neuen“ Stil: Er offenbart, wie von Limón gefordert, einen Gefühlskosmos, den er mit einer kraftvollen ungeheuer präsenten Körpersprache umsetzt. Er umarmt die Musik, wird eins mit ihr. Hier verschmilzt die Erhabenheit Bach'scher Klänge mit der Erhabenheit des Tanzes.
Der Abend beginnt mit „Etude“, einer Choreografie von Carla Maxwell, der jetzigen künstlerischen Leiterin der Company. Sie hält mit ihrer – bei der Probe sichtbaren – Power, Begeisterung und einem unermüdlichen Einsatz die Limón-Fackel am Strahlen. Man hätte sie gern beim Schlussapplaus auf der Bühne begrüßt. Hier in „Etüde“ zu Franz Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrad“ spiegelt eine Fünfer-Gruppe mit Leidenschaft und Kraft die Emotionen Gretchens wieder: Sie denkt an Faust, „meine Ruh‘ ist hin“.
„Come with me“ von Rodrigo Pederneiras wird durch die funkelnde Originalmusik des Jazzmusikers und Komponisten Paquito D'Rivera bestimmt: Die Company schwelgt in unbekümmerter Lebensfreude im Latin-Rhythmus, ein vorwitziges Piccolo pfeift die Melodie dazu. Doch die Stimmung schlägt um (die Choreografie wurde durch die Freiheitsbewegungen in Kuba inspiriert), ruckartige Bewegungen und Zusammenbrüche der Tänzer signalisieren Konfrontation und Gewalt.
„Psalm“, ein Spätwerk Limóns, offenbart vollends die künstlerische Bedeutung des Choreografen. Es basiert auf einer jüdischen Legende, dass 36 Gerechte Gott davon abhalten, die Welt untergehen zu lassen. Dies soll aber geschehen, wenn nur einer dieser Gerechten fehlt. Ein faszinierendes Ritual aus Rhythmus und Melodie entsteht, die Komposition von Jon Magnussen für Bariton, Chor und Orchester vermittelt mystische Stimmung. Der großartige Tänzer Dante Puleio ist der Gerechte, der wie - Atlas die Weltkugel - die Sünden der Menschheit auf seinen Schultern trägt. Er strauchelt, fällt, wird von zwei Sühnenden aufgenommen und triumphiert letztlich über den Tod.
Die Company, der Komponist und die Choreografie erschaffen mit ihren beschwörenden Gesten, den immer neuen Bewegungsbildern eine fast hypnotische Stimmung, die die Zuschauer in ihren Bann zieht. Niemand hustet mehr. Der Chor skandiert „Halleluja“ oder rhythmische Vokalisen, Paukenschläge wechseln mit zarten Celesta-Klängen. Vor allem: Die exzellent tanzende Company verdichtet ihre Bewegungsabläufe immer mehr, bis zu einem spannungsgeladenen, furiosen Finale. So erleben wir suggestives Tanztheater in Perfektion. Wir erleben die Magie des Theaters. Großer, begeisterter Applaus und rote Rosen für die Gäste aus New York.